«Im Moment würde ich nicht nach Mexiko reisen»
«Das Schweinegrippe-Virus hat eindeutig das Potenzial für eine Pandemie», sagt Kathrin Mühlemann. Für eine Entwarnung sei es trotz der relativ geringen Zahl der bisherigen Opfer zu früh; man müsse davon ausgehen, dass niemand vor diesem Virus geschützt sei. Die Berner Mikrobiologin hält es aber für «unsinnig», sich mit Tamiflu einzudecken.
«Bund»:Frau Mühlemann, hat es diese Woche für Sie ein anderes Thema gegeben als Schweinegrippe?Kathrin Mühlemann: Die Schweinegrippe hat zwar viel Raum in meiner Arbeitszeit beansprucht, aber ich musste mich auch um die tägliche Arbeit kümmern.
Was macht das Schweinegrippe-Virus so gefährlich?«Gefährlich» ist nicht ganz das richtige Wort. «Besorgniserregend» wäre besser. Der Schweinegrippe-Virus hat eindeutig das Potential für eine Pandemie. Und eine Pandemie könnte schlimme Auswirkungen haben. Die spanische Grippe zum Beispiel hat sehr viel Leid angerichtet und sehr viel gekostet. Das war eine Katastrophe.
Das war 1918 und 1919, als die Medizin noch längst nicht so weit war wie heute.Sicher ist die Medizin heute viel besser gerüstet. Aber das Beispiel der Lungenkrankheit Sars und auch der Vogelgrippe zeigt, dass es immer Viren gibt, die stark krank machen können. Zum Glück haben diese beiden Viren nicht das Potenzial entwickelt, sich weit zu verbreiten. Das neue Schweinegrippe-Virus hat dieses Potenzial, aber wir haben die Hoffnung, dass es von der Schwere der Krankheit her ein eher harmloses Virus ist.
Bis jetzt hat es wenig Tote gegeben, weniger als 10 in Mexiko, ein Todesfall in den USA.Wir hoffen, dass sich das bestätigt, dann werden wir alle ein wenig ruhiger werden. Aber man muss auch sagen: Schon nur eine saisonale Grippe ist nicht harmlos, das gibt jedes Jahr bis zu 1000 Todesfälle.
Sie sagen es: Jedes Jahr gibt es viele Grippetote, bis jetzt aber weniger als ein Dutzend Tote wegen Schweinegrippe. Dennoch ist die ganze Welt in Aufregung. Was ist denn der Unterschied?Die Schweinegrippe ist neu, man kennt sie noch nicht gut genug, um die Hände in den Schoss zu legen und zum Courant normal überzugehen.
Alle Viren unterscheiden sich voneinander, und viele Viren sind neu. Was ist am Schweinegrippe-Virus speziell? Mindestens nach den ersten Berichten aus Mexiko musste man annehmen, es handle sich um ein Virus mit einer relativ hohen Todesrate. Weiter gab es Berichte, wonach vor allem auch junge und sonst gesunde Menschen betroffen seien. Beides ist alarmierend, man muss schauen, ob sich das bestätigt. Solange man keine Gewissheit hat, muss man dieses Virus wichtig nehmen. Zudem muss man davon ausgehen, dass die gesamte Bevölkerung für dieses Virus empfänglich ist, da es eben neu ist.
Der deutsche Mikrobiologe Alexander Kekulé wird von «Spiegel Online» mit der Aussage zitiert, das Schweinegrippe-Virus sei nicht besonders aggressiv.Mit jedem Tag steigt bis jetzt die Wahrscheinlichkeit, dass das stimmt. Ich halte es aber für nicht sehr klug, heute schon solche Statements abzugeben. Das beruhigt und die Bevölkerung vielleicht zu stark. Wenn man dann am nächsten Tag hören würde, das Virus sei doch sehr gefährlich, wären Unmut und Verunsicherung die Folge.
Ist bis jetzt nicht eher das Umgekehrte passiert: Es wurde auf Panik gemacht?Nicht von den Experten, eher von den Medien – wie üblich (lacht). Die Medien leben nun einmal von der Empörung, wie Peter von Matt kürzlich in einem Zeitungsartikel geschrieben hat.
Die Medien geben häufig Expertenmeinungen wieder. Ich zitiere Titel von zwei Agenturmeldungen, die kurz nacheinander gesendet wurden: BAG-Chef Thomas Zeltner wurde mit der Aussage zitiert es gebe «keinen Grund für eine grössere Aufregung». Dann kam die Meldung: «Die WHO stuft Schweinegrippe als zunehmend gefährlich ein».Die Weltgesundheitsorganisation muss an die ganze Welt mit in Betracht ziehen, auch Länder, die viel ärmer sind als wir und in denen der Gesundheitsstandard viel schlechter ist. Wenn Menschen zusätzlich zu ihrer schlechten Gesundheit mit Schweinegrippe infiziert werden, darf man das nicht unterschätzen.
Ist es also richtig, dass die WHO die Stufe 5, die zweithöchste Alarmstufe für Pandemien, ausgerufen hat?Ja. Phase 5 ist eindeutig erfüllt. Dass das Virus vielleicht doch nicht so gefährlich ist, hat mit der Definition der Pandemie-Stufen nichts zu tun, da geht es in erster Linie um die Epidemie-Gefahr, um die Gefahr der Verbreitung und Übertragung.
Wenn man von unterschiedlichen Gesundheitsstandards ausgeht, kann man doch für die Schweiz den Schluss ziehen, dass die Schweinegrippe kaum mehr Tote fordern wird als eine normale Grippe.Um das zu sagen, ist es einfach noch zu früh. In der Schweiz gibt es bis jetzt einen einzigen bestätigten Fall. Auch in der EU ist die Zahl dieser Fälle klein. Man muss auch berücksichtigen: Wenn man jetzt zu früh entwarnen würde und es deswegen zu einem Todesfall käme, würde dies nicht akzeptiert.
Es hat ja schon eine Panne mit dem bestätigten Fall im Kantonsspital Baden gegeben.Das kann im täglichen medizinischen Leben passieren. Wir sind nicht fehlerfrei. Und zum Thema «Panikmacherei»: Sie sehen die Empörung in den Medien über diesen Fall. Gewisse Medien haben im Frontbild den jungen Patienten abgebildet begleitet von Beschuldigungen.
Gerade in diesem Fall in Baden ist die Krankheit offenbar relativ harmlos verlaufen. Gibt es nicht auch deshalb schon eine gewisse Entwarnung?Nun wir wissen immer noch nicht, wie krankmachend dieses Virus ist. Unter der Voraussetzung, dass 30 Prozent oder mehr der Bevölkerung erkranken – weil es ein neues Virus ist – und ein wesentlicher Anteil dieser Erkrankten wegen starker Symptome das Bett hütet, kann das einen wesentlichen Einfluss auf das öffentliche Leben haben und uns wirtschaftlich stark treffen, auch wenn es «keine» oder wenig Tote gibt. Dies ausgerechnet in einer Zeit, in der wir schon wirtschaftliche Probleme haben.
Also müssen alle Vorsichtsmassnahmen, die man ergreifen kann, auch ergriffen werden?Ja. Im Moment fehlt uns genügend Evidenz, dass wir es nicht so halten sollten. Und in der Schweiz, wo es noch wenige Verdachtsfälle gibt, können wir das mit unseren Ressourcen auch managen.
Das Bundesamt für Gesundheit sagt, es reiche im Moment aus, die üblichen Hygienemassnahmen zu beachten, Nastuch beim Niesen, Händewaschen und so weiter.Das ist absolut vernünftig. Wir haben zwar noch keinen Hinweis darauf, dass sich das Virus in der Schweiz schon so etabliert hat, dass es von Mensch zu Mensch übertragen wird. Die übliche Hygiene ist aber sowieso sinnvoll.
Soll ich mir Tamiflu besorgen?Nein, wie schon vielfach gesagt wurde: Es ist unnötig, sich als Privatpersonen mit Tamiflu einzudecken. Es soll nur auf ärztliche Verordnung eingesetzt werden. Tamiflu ist ein Medikament mit Nebenwirkungen und deshalb nicht unbedenklich.
Offenbar ist Tamiflu in einigen Apotheken rezeptfrei erhältlich.Das ist illegal.
Wer sich Tamiflu besorgt, möchte einfach sicher gehen, dass ihm und seiner Familie das Medikament im Falle einer Pandemie zur Verfügung steht. Reichen die Vorräte?Soweit man eine mögliche Pandemie vorausberechnen kann, ist das der Fall. Wie gesagt: Das Medikament ist dazu da, um Erkrankte zu behandeln, nicht jeden, der jetzt ein bisschen ängstlich ist.
Ist es richtig, sich für die Familie Gesichtsmasken anzuschaffen?Das hat das Bundesamt für Gesundheit für diese Situation schon lange empfohlen Die Bevölkerung hat das bis vor kurzem nicht so ernst genommen, weil das Risiko einer Pandemie nicht so sichtbar war. Ich halte es für aber sinnvoll, solche Masken zuhause zu haben, auch wenn sich diese Schweinegrippe vielleicht als harmlos erweist.
Aber anziehen muss man die Maske nicht.Nein, zum jetzigen Zeitpunkt nichtl. Während einer etablierten Pandemie in der Phase 6 wird die Bevölkerung aber sicher nach Masken fragen, unter anderem auch aus psychologischen Gründen.
Die Bevölkerung wird auch nach Tamiflu fragen.Eine Maske hat nicht die gleichen Nebenwirkungen wie Tamiflu.
Schützt denn eine Maske in einer Pandemie-Situation überhaupt etwas?Das hängt davon ab, wie übertragbar das Virus ist. Man kann davon ausgehen, dass eine Maske einen gewissen Schutz bietet, zusammen mit andern Massnahmen wie: sich fernhalten von kranken Leuten, sich die Hände häufig waschen.
Schützt eine Maske den Menschen, damit er nicht angesteckt wird oder schützt sie davor, dass der Infizierte andere ansteckt?Beides, auch der Infizierte soll die Maske tragen, um Kontaktpersonen nicht anzustecken. Man stoppt sozusagen die Quelle für Viren, die über Atemwegströpfchen in die Umgebung gelangen. Das Virus kann aber auch über kontaminierte Oberflächen – zum Beispiel Hände – übertragen werden. Deshalb kann die Maske allein die Übertragungskette nicht sicher unterbrechen.
Ich bin gegen Grippe geimpft. Bin ich jetzt auch gegen das Schweinegrippe-Virus besser geschützt?Die Antwort im Moment heisst: nein. Es gibt keinen Beweis dafür , dass eine Impfung gegen eine saisonale Grippe irgendeine Kreuzprotektion bewirkt. Das ist es ja, was das Schweinegrippe-Virus so besonders macht: Man muss davon ausgehen, dass niemand mit irgendeinem Schutz vor diesem Virus ausgestattet ist.
Ist das Schweinegrippe-Virus gefährlicher als das Vogelgrippe-Virus, weil es sich von Mensch zu Mensch überträgt?Wie gesagt, «gefährlich» ist das falsche Wort, «besonders» ist besser. Das Besondere ist, dass das Schweinegrippe-Virus ein neues Virus ist, dass es mehr Leute krank macht, als die saisonale Grippe. Und das Virus hat ein höheres Potenzial, sich von Mensch zu Mensch zu übertragen als das Vogelgrippe-Virus.
Auch bei der Lungenkrankheit Sars vor sechs Jahren war die Aufregung gross. Aber letztlich ist Sars harmlos verlaufen.Achtung: Sars war ein Virus mit einer sehr hohen Todesrate. Wenn es heute kein Problem mehr ist, ist der Grund, dass man dieses Virus relativ früh erkannt und sehr rigorose Massnahmen zuer Eindämmung der Verbreitung ergriffen hat. Sonst sähe heute die Welt anders aus.
Wieso gibt es immer wieder neue gefährliche Viren wie Vogelgrippe, Sars, Schweinegrippe?Es gibt nun einmal sehr viele Viren, gerade auch in der Tierwelt. Viren sind einer ständigen Evolution unterworfen, es gibt dauernd Mutationen, Veränderungen, Anpassungen. Weiter dringt der moderne Mensch immer mehr in andere Ökosysteme ein. Es gibt Massentierhaltung, bei der der Kontakt zwischen Mensch und Tier sehr eng ist. Statistisch gesehen steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Virus vom Tier auf den Menschen übertragen kann und die notwendigen Veränderungen durchmacht, die es ihm erlauben, sich im Menschen zu etablieren.
Die Globalisierung spielt auch eine Rolle?Ja. Sie unterstützt die rasche Verbreitung eines neuen Virus, nachdem es den Sprung vom Tier auf den Menschen geschafft hat.
Muss man also damit rechnen, dass jedes Jahr irgendwo ein Virus auftaucht, das für den Menschen gefährlich sein könnte?Es hat in den letzten Jahren mehrere Kleinepidemien gegeben, gerade auch in Asien, die von den Medien in der westlichen Welt nicht oder kaum beachtet wurden. Auch in diesen Fällen sind Viren von Tier zu Mensch übergesprungen. Die WHO rechnet mit einer neuen Infektion pro Jahr.
Das kann auch beruhigend sein für Sie, Ihnen geht die Arbeit nie aus.(lacht) Das ist nicht die richtige Formulierung. Ich sehe die Bedrohung, die dahinter steckt. Aber natürlich fasziniert mich das auch, deshalb ist es mein Beruf.
Es gibt x Verdachtsfälle, bei denen noch nicht klar ist, ob es sich um das Schweinegrippe-Virus handelt. Wieso dauert die Diagnose so lange?Weil man zuerst einen zuverlässigen Test entwickeln muss, einen hochempfindlichen Test, der möglichst jede Infektion erkennt und auch genau ist, also nur dann ein positives Resultat ergibt, wenn es sich um das Schweinegrippe-Virus handelt. Einen solchen Test kann man nicht innert 24 Stunden entwickeln.
Ist der Test jetzt so weit, geht es bei den neuen Verdachtsfällen schneller?Es sollte schneller gehen. In Genf, im Nationalen Referenzzentrum für Influenza, steht der Test jetzt zur Verfügung.
Wenn in Bern ein Verdachtsfall auftritt, müssen die Proben nach Genf geschickt werden.Ja, es ist richtig, dass nicht jedes Institut selbst an einem neuen Text arbeitet. Aber wenn Genf den Test soweit etabliert hat, dass er zuverlässig ist, werden auch andere Labors, auch wir, den Test erhalten.
Warum gibt es noch keinen Impfstoff?Weil das noch viel komplexer ist als ein Test. Auch mit einem Impfstoff geht es heute viel schneller als früher, aber das braucht zuerst genaue Kenntnisse über das Virus. Der richtige Virusbestandteil muss dann in einen (schon bekannten) Impfstoff integriert werden, und der Impfstoff muss in grossen Mengen produziert werden können.
Sind Sie in Ihrem Institut täglich mit Anrufen von besorgten Bürgern zum Thema Schweinegrippe-Virus konfrontiert?Ja, für allgemeine Auskünfte zur neuen Grippe verweisen wir an die Telephon Hotline des BAG. Leute, die in den letzten 7 Tagen aus einem betroffenen Gebiet zurückgekehrt sind und Grippesymptome verspüren, sollen sich telefonisch beim Hausarzt melden. Die Ärzte im Kanton Bern melden solche Fälle weiter zu uns ans Inselspital, und wir klären dann weiter ab, ob sich der Verdacht bestätigt.
Wie viele effektive Verdachtsfälle gab es im Kanton Bern schon?Über diese Zahlen verfügt nur der Kantonsarzt. (Laut Auskunft von Thomas Schochat, dem stv. Kantonsarzt, gab es im Kanton Bern bisher vier Verdachtsfälle. In keinem Fall handelte es sich um Schweinegrippe, die Red.)
Für Sie als Forscherin muss es faszinierend sein, in einem solchen Fall herauszufinden, um was es sich genau handelt.Das ist so. Wir haben diesen Beruf gewählt, weil uns die Natur fasziniert, weil wir Respekt vor diesen Krankheitserregern haben, ihrer Wandelbarkeit, die verschiedenen Facetten, mit denen sie auftreten.
Ist es richtig, ein Reiseverbot zu verhängen?Das wäre dann richtig, wenn klar wäre, dass eine eingeschränkte oder keine Reisetätigkeit die Verbreitung des Virus massgeblich beeinflussen würde. Soweit sind wir noch nicht. Deshalb ist die Haltung des Bundesamts für Gesundheit vernünftig. Das BAG sagt, es gibt kein Verbot, aber man appelliert an die Vernunft.
Würden Sie selber nach Mexiko reisen?Ich war noch nie dort und habe nicht den Wunsch, dorthin zu gehen.
Wenn jetzt aber dort in der nächsten Woche ein Sie interessierender medizinischer Kongress stattfände?Das ist unwahrscheinlich, aber wenn Sie eine Antwort wollen: Im Moment würde ich nicht als Touristin nach Mexiko reisen. Das fände ich unvernünftig.
In ein paar Monaten wird man vielleicht zurückschauen und sagen: Viel Aufregung um nichts.Das wissen wir halt erst in ein paar Monaten. Es ist auch möglich, dass es dann heisst: Um Himmelswillen, wer ist schuld wieso hat man das und das nicht gemacht?
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