Im eisigen Griff der Aare
Zwei Berner schwimmen während des ganzen Winters jede Woche im Dunkeln vom Schönausteg ins Marzili. Unser Autor ist einmal mitgeschwommen.
Das Schlimmste sind die Füsse. Seit mehr als fünf Minuten stehe ich nun unter der Dusche und lasse warmes Wasser darüberlaufen. Aber statt dass es besser wird, wird alles nur noch schlimmer. Als ich den Hahn aufdrehte, waren die Füsse einfach kalt. So kalt zwar, dass ich den Boden darunter nicht mehr spürte, aber immerhin nur kalt. Jetzt brennen sie wie Feuer. Die grossen Zehen sind knallrot, die kleinen weiss. Und während ich sie weiter dusche, bekommen die Nagelbetten einen immer deutlicheren Blaustich. Einen Moment lang frage ich mich, ob ich mich setzen soll, um nicht plötzlich umzufallen. Doch dann, endlich, beginnt der Schmerz nachzulassen.
Eine Stunde zuvor. Die beiden Männer, die sich auf dem Parkplatz unter der Monbijoubrücke in Bern begrüssen, sehen eigentlich ganz vernünftig aus. «Bist du bereit?», fragt mich Michael Vogel. – «Ich glaube schon», antworte ich. – «Dann lasst uns starten.» Michael Vogel und David Huber sind Freunde seit dem Kindergarten. Im November – Huber war gerade von einer anderthalbjährigen Velotour zurückgekehrt – haben die beiden Berner beschlossen, den ganzen Winter über mindestens einmal pro Woche im Dunkeln in der Aare zu schwimmen. Sie wollen ihre Grenzen suchen, ein Abenteuer erleben, «aus der Komfortzone rauskommen», wie Huber es ausdrückt. «Ich hatte noch kein einziges Mal keine Lust darauf», sagt Vogel.
Nun beginnen sie mit der Ruhe derer, die etwas schon Dutzende Male gemacht haben, ihre Vorbereitungen: Umziehen, die Kleider ins Auto, wasserdichter Packsack und Handtuch in die Hand. Man tut sich einen Gefallen, wenn das nicht allzu lange dauert. So sind wir bald bereit. Wir tragen jetzt die Badehose, einen Pullover, eine Mütze, eine Stirnlampe und Flipflops. Das Handtuch deponieren wir beim Ausstieg. Dann joggen wir los.
Ich stelle den beiden ein paar Fragen, und Huber erzählt kurz von seiner Veloreise. Doch ein Gespräch kommt nicht zustande. Viel zu besonders ist die Situation, viel zu sehr spüre ich schon, wie die minus ein Grad kalte Luft meine Zehen herunterkühlt, viel zu sehr frage ich mich, worauf ich mich da eingelassen habe. Ich beginne zu verstehen, weshalb die beiden das, was sie da tun, ein Ritual nennen. Ich nehme an, dass sie die Strecke vom Marzili hinauf zum Schönausteg normalerweise wortlos zurücklegen.
«Mit der Zeit wird es angenehm»
Nach ein paar Minuten sind wir da. Ich friere nicht, aber meine Füsse sind schon ordentlich kalt. «Jetzt wärmen wir uns auf», sagt Huber und beginnt, auf der grossen Steintreppe oberhalb des Schönaustegs den Hampelmann zu machen. Dann macht er Liegestützen. Ich mache es ihm nach.
Nun, so habe ich mir das ausgemalt, sollte die Euphorie einsetzen. Aber da ist nichts.
«Wollen wir?», fragt Vogel nach ein paar Minuten. Wir packen den Pulli, die Mütze und die Flipflops in den Packsack. Unser Warm-up hat auf der untersten Treppenstufe stattgefunden, auf der man im Sommer längst im Wasser steht. Von da steigen wir nun hinab auf die algenbewachsenen Steine. Das Wasser umspült zuerst meinen rechten Fuss, dann auch den linken. So fühlen sich also 6,2 Grad an. Wir netzen uns an. Dann steigen wir tiefer ins Wasser und stossen uns ab.
Sofort nimmt mich die Aare in ihren eisigen Griff. Ich pruste und schnappe nach Luft. Aber nach ein paar Augenblicken fällt mir das Atmen leichter. Erst dann realisiere ich, wie sich das kalte Wasser auf der Haut anfühlt. Die Sache mit den tausend Nadelstichen habe ich bisher nicht so ernst genommen, wenn sie jemand erzählt hat, doch genau so fühlt es sich an: wie tausend Nadelstiche.
Meine Begleiter machen einen entspannten Eindruck. «Gell, mit der Zeit wird es angenehm», sagt Vogel, nachdem wir etwa die Hälfte der Strecke zwischen Schönausteg und Monbijoubrücke zurückgelegt haben. Tatsächlich werden die Nadelstiche etwas weniger, doch angenehm? Ich weiss nicht.
Die Stimmung aber hat es in sich. Unsere Atemluft dampft im Schein der Stirnlampen, und die winterlich-niedrige Aare fliesst fast geräuschlos dahin. Als wir uns dem Marzili nähern, taucht hinter den Bäumen das beleuchtete Bundeshaus auf. Ich schaue hinauf und vergesse für einen kurzen Moment, wo ich gerade bin. Dann sind wir fast am Ziel. «Dort, nach dem grossen Baum, kommt das Stägli», sagt Huber.
Ich halte ich mich an den Steinen fest und versuche, aufzustehen. Es gelingt nicht beim ersten Versuch. Meine Füsse, das merke ich erst jetzt, sind taub vor Kälte. Und meine Hände auch. Auf allen vieren klettere ich aus dem Wasser. Ich nehme das bereitgelegte Tuch und trockne mich ab. Nun, so habe ich mir das ausgemalt, sollte die Euphorie einsetzen. Aber da ist nichts.
Wie Lava in einem Eisklotz
Was ich nicht bedacht habe: Wenn man nach der Sauna ins kalte Wasser springt, hat man den Kälteschock, aber nicht kalt. Wenn man so lange im Wasser bleibt wie Vogel und Huber und heute auch ich, hat man beides: den Kälteschock und kalt. «Das Schlimmste sind die Füsse», sagt Huber, während wir zum Parkplatz traben, und ich ahne noch nicht, was er damit meint. «Bis man mal die Socken anhat, das ist immer ein Kampf», fährt er fort.
Überhaupt ist es schwierig, sich anzuziehen, wenn man die Hände und Füsse kaum spürt und alles feucht und kalt ist. Irgendwann bin ich dann doch fertig damit. Ich hüpfe auf und ab, um mich etwas aufzuwärmen. Huber reicht mir einen Becher heissen Tee. Es fühlt sich an, als wäre ich ein Eisklotz und gösse Lava in mich hinein.
Nun ja, besonders erholsam sei diese Art des Badens nicht, räumt Vogel ein. «Aber es bringt Spass und Nervenkitzel. Und ich glaube, dass es gesund ist und mich weniger kälteempfindlich macht.» Ich dürfe gerne wieder mitkommen, sagt Huber, während auch er einen Moment lang den Becher umgreift und in kleinen Schlucken trinkt. Danke, antworte ich, ich werde darüber nachdenken. Dann sage ich adieu und fahre heim, um erst mal meine Füsse aufzutauen.
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