Patrick Lerjens Silver Birch«Ich hatte eine verschüttete Beziehung zu meiner Stimme»
Patrick Lerjen tritt zum ersten Mal als Sänger ins Rampenlicht. Um seine eigene Stimme zu finden, musste er auch über seine Definition von Männlichkeit nachdenken.

Wenn Patrick Lerjen ein neues Album beginnt, ist seine grösste Sorge nicht etwa die, ob es denn auch gut wird. Sondern: ob er es auch rechtzeitig fertigkriegt. Bevor der Tod anklopft.
Wie verrückt das auch klingen mag: Diese existenzielle Panik ist echt. «Tatsächlich frage ich mich immer, wenn ich an etwas Neuem arbeite: Was ist, wenn ich vorher abkratze und es nicht rechtzeitig auf den Punkt bringe?»
Patrick Lerjen sitzt in seinem Studio im Berner Progr. Hinter ihm geht das einzige Fenster hinaus auf den Waisenhausplatz, dahinter ragt die Kornhausbrücke ins Bild.
Die Band, die verschwand
Seit der Eröffnung ist er hier im Progr-Atelierhaus eingemietet und mindestens ebenso lange prägt der Walliser nun schon die Berner Musikszene in vielfältigster Weise. Mal als Gitarrist einer Rockband, mal als Produzent, mal als Elektronik-Tüftler für so unterschiedliche Projekte wie Porok Karpo des tibetischen Freiheitskämpfers Loten Namling und Bands wie Katzenheim und Matto Rules.
Eines seiner bekanntesten Projekte aber war jenes an der Seite seiner Frau Helena Danis. Die Band hiess Electric Blanket und veröffentlichte in den 14 Jahren ihres Bestehens nicht nur vier Alben, sondern hatte auch Auftritte in London, an eigentlich allen grossen Open Airs der Schweiz und in diversen Städten in Deutschland. Doch weil der ganz grosse Erfolg ausblieb und den beiden der Druck mit der Zeit zu viel wurde, verschwand Electric Blanket 2016 endgültig.
Nun hat sich der umtriebige Multiinstrumentalist und ehemalige Jazzschüler nochmals völlig neu erfunden. Silver Birch nennt er sein Trio, bei dem er zum ersten Mal überhaupt als Sänger auftritt. «Oblivion» heisst das Debütalbum mit Songs, die tatsächlich so zauberhaft schimmern wie die Blätter einer Birke in der Abendsonne. Am Samstag tauft er es im Lehrerzimmer des Progr.
Mut, zu singen
Und wenn Lerjen jetzt sagt, er habe mit diesem Album seine eigene Stimme gefunden, ist das durchaus wörtlich gemeint. «Meine Stimme war eine Katastrophe», sagt er. «Ich hatte ein Leben lang eine verschüttete Beziehung zu meiner Stimme, vermied Vokale und hatte mir eine defensive Art zu sprechen angewöhnt. Singen war immer ein Desaster.»
Dabei hätte er seine eigenen Lieder schon längst gern auch selber gesungen. Es sei ihm zunehmend eigenartig vorgekommen, zu seinen Gedanken die Stimme von anderen zu hören, sagt er. Vor fünf Jahren wagte er den Schritt. Hier im Progr-Atelier versuchte er das erste Mal überhaupt, ein eigenes Lied selbst zu singen. Zuerst war da freilich nicht viel. «Ich konnte weder einen Ton halten noch einen Sound erzeugen», sagt er. «Nach zwei Minuten war mir schwindelig.»
Doch allmählich – mit fast täglichem Üben und mit der Hilfe einer Gesangslehrerin – entwickelte er seine Stimme, baute eine Beziehung zu ihr auf. Irgendwann wagte er sich, auch dann zu singen, wenn er hörte, dass im Proberaum nebenan jemand war.

Weibliche Vorbilder
«Mit der Zeit wurde ich potenter als Sänger», sagt er. «Plötzlich stellte sich die Frage: Wie will ich überhaupt klingen? Das hatte für mich etwas mit meiner Definition von Männlichkeit zu tun.» Da merkte Lerjen auch, dass er eigentlich ein Leben lang vor allem Frauenstimmen gehört hatte. Dass seine gesanglichen Vorbilder alles Frauen waren, etwa Leslie Feist, Joan as Police Woman und Sophie Hunger.
So musste er sich zuerst auf die Suche nach männlichen Stimmen machen. Viele seien ihm zu protzig und andere dann wieder zu weinerlich gewesen, sagt er. «Aber irgendwann fand ich eine Mitte, eine Stimme, meine Stimme, von der ich sagen kann: So ein Mann will ich sein.»
«Vor Publikum zu singen war für mich eine ganz neue Art, den Leuten nah zu sein.»
Bald sang er ein erstes Mal mit seiner Band. Und irgendwann im Jahr 2019 sang er zum ersten Mal vor Publikum. «Musik machen war für mich immer auch eine Art, mich der Welt zu zeigen, mich mitzuteilen. Das Singen macht das nochmals intensiver» sagt Lerjen. «Es war für mich eine ganz neue Art, den Leuten nah zu sein.»
Und jetzt liegt also dieses Album vor und ist nicht nur durch diese stimmliche Befreiung ein sehr persönliches geworden. «Das Album ist ein Sammelsurium aus allen musikalischen Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe», sagt Lerjen. «‹Oblivion› ist etwas, das nur ich so kreieren konnte. Es ist wie eine Suppe, die sehr lange gekocht hat.»
Nur nicht resignieren
Und sie schmeckt vorzüglich. Die zehn Lieder scheinen alle in herbstlich diffuses Licht getaucht, es sind melancholische, mit dezenter Elektronik angereicherte Gitarrenballaden, verspielt, mal härter und dunkler, dann wieder hell und zart, minimalistisch und modern. Mit warmer, brüchiger Stimme singt Patrick Lerjen vom Wandel der Erinnerungen, von Liebe und von Dingen, die in Vergessenheit geraten. Er singt von der Vergänglichkeit und immer wieder von einer unbedingten Zuversicht.
Man hört es, es sind Patrick Lerjens Lebensthemen. Er ist dieses Jahr 50 geworden. «Es ist wahr: Man fühlt sich nicht mehr so leicht», sagt er. Er merke, wie auch Leute um ihn herum schwerer würden, frustriert und missgünstig. «Ich finde, die wichtigste Aufgabe, die uns das Älterwerden stellt, ist nicht zu resignieren, sondern neugierig zu bleiben. Wir müssen immer wieder nach dieser Leichtigkeit suchen.» Patrick Lerjen hat sie gefunden. Noch einmal. Und rechtzeitig.
Plattentaufe: Sa, 13. November, 20.30 Uhr, Das Lehrerzimmer, Progr, Bern.
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