Gewaltige Wut, gewaltiger Mut
Eine Jenische, die schreibend ihre Opferrolle überwunden hat: Mariella Mehr ist eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Literatur. Jetzt wird sie mit einem Stipendium «Weiterschreiben» der Stadt Bern ausgezeichnet.

Die Stimme am Telefon ist tief und klingt etwas heiser. Mariella Mehrs raue Altstimme ist ebenso unverwechselbar wie die elementare, oft verstörende Wucht ihrer Sprache. Seit knapp vier Monaten ist sie wieder in der Schweiz, nachdem sie 20 Jahre lang in der Toskana gelebt hat. In Zürich und Umgebung sucht die 67-Jährige eine Wohnung, die gross genug sein muss für ihre 2500 Bücher umfassende Bibliothek. Ihr vorübergehender Wohnsitz ist derzeit die Pension Stauffacherin, in der neben einem Hotelteil auch eine Wohngemeinschaft geführt wird, die Frauen aller Nationen, Religionen sowie Konfessionslosen offensteht. Die Stauffacherin: In Schillers Drama «Wilhelm Tell» geht die Idee des Rütlischwurs eigentlich von ihr aus. Als Gertrud ermutigt sie ihren zögernden Mann mit dem Aufruf: «Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich.» Auch die Schriftstellerin Mariella Mehr sieht vorwärts, die Zeichen stehen auf Aufbruch. Trotz einer stärker gewordenen Sehschwäche, die auf eine Falschbehandlung in ihrer Kindheit zurückgeht, fühlt sie sich in ihrer Arbeit dank Hörbüchern und einem Sprachcomputer nicht eingeschränkt. In Italien sei sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten heimisch geworden, erzählt sie, auch als Lyrikerin fand sie Beachtung, einzelne Werke wurden ins Italienische übersetzt. Vor wenigen Wochen ist ein zweisprachiger Gedichtband von ihr erschienen unter dem Titel «Nachrichten vom Tod». Warum also kehrt sie in die Schweiz zurück, in das Land, in dem sie so viel Leid erfuhr und aus dem sie sich anfangs der 1990er-Jahre eigentlich dauerhaft verabschiedet hatte? Sie brauche, entgegnet Mehr, für ihre literarischen Projekte die deutschsprachige Umgebung: «Ich fing an, italienisch zu träumen und zu denken, entsprechend veränderte sich auch meine Sprache. Diese Entwicklung gab den Ausschlag für meine Rückkehr.» Seit einigen Jahren arbeitet sie an einem Roman, den sie spätestens 2016 abschliessen möchte. Im Zentrum steht eine Frau, die sich als Reaktion auf traumatische Erlebnisse in vier Personen aufgespalten hat: «Alle vier haben dieselbe Geschichte, aber alle vier haben dafür eine andere Sprache, das interessiert mich daran.»