Gärtnern als Therapie
Wanda Keller lancierte den ersten Gemeinschaftsgarten der Stadt Zürich. Für Redaktion Tamedia schreibt sie neu einmal pro Monat über alles, was wächst.

Der Dozent holte gerade aus, um zu erläutern, wie die Ernteerträge im Busch von Uganda gesteigert werden könnten, als Wanda Keller dachte: Nein. Das ist mir alles zu abgehoben. Das will ich nicht. Ich will etwas Handfestes, etwas Bodenständiges.
Sie liess das Ethnologiestudium nach vier Semestern sausen und schrieb sich an der Fachhochschule in Wädenswil ein. Studiengang: Hortikultur, also Gartenkultur und Umweltingenieurwesen. Wanda Keller büffelte Chemie. Biologie. Biochemie. Unmengen von Pflanzennamen. Sie war eine der wenigen ohne Gärtnerausbildung: «Ich hatte keine Ahnung. Und keinen grünen Daumen.» Aber ihr Studium machte sie glücklich.
Heute, neun Jahre später, hat Wanda Keller sowohl einen Gärtnerabschluss als auch einen Bachelor in Hortikultur und Umweltingenieurwesen. Wobei sie das nie so sagt, da kaum jemand versteht, was Hortikultur bedeutet. Die 38-Jährige mag es unkompliziert: Sie nennt sich der Einfachheit halber Gartenbauingenieurin, auch wenn das nicht ganz korrekt ist: «Darunter können sich die Leute immerhin etwas vorstellen.» Und es klingt handfest und bodenständig – so, wie sie es mag.
Den Gedanken freien Lauf lassen
Das, was sie tut, ist es ja auch: handfest und bodenständig. Sie bringt mitten in der Stadt Zürich Brachen zum Blühen und Kartoffeln zum Wachsen; nur einen Steinwurf von der lärmigen Langstrasse entfernt, am Gustav-Gull-Platz an der Europaallee, hatte sie drei Jahre lang Essbares kultiviert. Sie sät, hackt, schleppt, schaufelt, giesst und rodet. Bepflanzte letztes Jahr die Ausstellung «Gärten der Welt» im Museum Rietberg in Namen von Veg and the City, das Geschäft für urbanes Gärtnern, das sie mit aufbaute. Ihre Fingernägel haben oft schwarze Ränder, aber das stört sie nicht, sie lacht bloss und sagt: «Das ist der neue Chic.»
Angewandte Pflanzenkunde ist das sozusagen, nicht theoretisches Fachsimpeln. Und sie verbindet das Ganze, abgesehen von ihrem botanischen Know-how, mit einem zusätzlichen wissenschaftlichen Ansatz. 2006 schrieb sie in ihrer Diplomarbeit über Gartentherapie und war damit hierzulande der Zeit weit voraus. Bevor die Hipster Jahre später das Urban Gardening entdecken sollten, weil sie gehört hatten, dass die in Brooklyn Grünzeug auf den Dächern anpflanzten und das total cool sei, hatte sich Wanda Keller bereits für die Wirkung des Gärtnerns auf den Menschen interessiert. In Grossbritannien und den USA weiss man schon seit 30 Jahren um die heilende Wirkung der Gartenarbeit: «Horticultural Therapy» heisst das in der Fachsprache.
«Pflanzen», sagt Wanda Keller, «wecken etwas Archaisches in uns.» Und: Gärtnern tue gut. Es sei so einfach, aber so effektiv, das liebe sie daran. Man sei körperlich aktiv, könne gleichzeitig den Gedanken freien Lauf lassen und sich mit anderen austauschen. Und von der Natur bekomme man auch etwas mit, im Idealfall lerne man ganz nebenbei eine Menge über Böden, den Wasserhaushalt, die Ernährung, ja, auch über die Nahrungsmittelproduktion und damit sogar die Globalisierung.
Das war es, was sie weitergeben wollte. Nach dem Studienabschluss bewarb sie sich bei der Gesellschaft für Schülergärten, einem Verein, der Areale in Schrebergärten mietet. Der Garten war so riesig, dass sie die Arbeit nicht alleine bewältigen konnte: «Ich lockte meine Freunde mit der Aussicht auf eine Wurst jeweils an den Wochenenden in den Garten, und sie kamen alle, und sie kamen alle immer wieder.» Auch jene, die gar keine Wurst mochten. Da merkte sie: Es funktionierte.
Mittlerweile ist das Gärtnern als Teil der sozialen Arbeit vermehrt auch in Europa und der Schweiz ein Thema, seine therapeutische Wirkung unbestritten, und Wanda Keller wird immer wieder als Expertin hinzugezogen. Sie hatte 2009 den ersten Gemeinschaftsgarten der Stadt Zürich lanciert, indem sie für die geplante Zwischennutzung einer ehemaligen, verlotterten Gärtnerei in Seebach einen Gemeinschaftsgarten vorschlug. Grün Stadt Zürich hatte sofort zugesagt.
Das Konzept war simpel: Anmelden konnten sich alle, die Lust hatten, je eine Parzelle von 25 Quadratmetern zu pflegen und zu bepflanzen. 20 Gruppen machten mit, ganze Studenten-WGs und Familien, Pensionierte und Migranten aus elf Nationen, darunter ein Kambodschaner, der jeden Abend in den Garten kam, um nach seinen Chrysanthemen zu schauen. «Er hatte eine schlimme, schwere Geschichte. Im Garten fand er, auch wenn das kitschig klingen mag, Frieden.»
Das Projekt war ein Erfolg und zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Die damalige Stadträtin Ruth Genner kam persönlich vorbei, und als die Seebrache nach zwei Jahren einer Alterssiedlung weichen musste, hatte Wanda Keller längst das Zwischennutzungspotenzial der Kronenwiese im Quartier Unterstrass entdeckt. Dort baute sie mit Schulklassen ein Weidenhaus, «aber nicht so anthroposophisch», sondern ein richtiges Haus, ein grünes Klassenzimmer.
Passanten blieben stehen, schauten zu. Sie stellten Fragen, kamen mit den Benutzern des Gartens und untereinander ins Gespräch. Und das Beste, sagt Wanda Keller, sei «dieser Blick, wenn Kinder ein Rüebli ausgraben, das sie selbst gepflanzt haben. Der geht mitten ins Herz rein.»
Heute studiert Wanda Keller wieder. Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten, im sechsten Semester. Damit schliesst sich der Kreis: «Ich wollte immer was mit Menschen machen. Und ich liebe das Gärtnern. Ich habe zwar schon vorher beides verbunden, aber von beiden Themen auch die wissenschaftliche Seite zu kennen, gefällt mir.»
Fürs Gärtnern bleibt weniger Zeit als auch schon, aber sie hat einen kleinen Pflanzblätz in einem Schrebergarten. Bei ihr daheim allerdings findet sich kaum Grün, ihre Wohnung ist kein kleiner Dschungel. Im Gegenteil. Sie mag weder Zimmerpflanzen («Wer die einmal in der Natur gesehen hat, weiss, dass es sich indoor meist nur um ein kümmerliches Etwas handelt») noch Topfpflanzen, Orchideen erst recht nicht – aber ausgerechnet davon stehen bei ihr fünf Stück. Sie hab sie geerbt und bringe es, natürlich, nicht übers Herz, sie zu entsorgen. «Die gehen einfach nicht ein», klagt sie und verdreht die Augen, «die sind zufrieden, wenn ich ihnen regelmässig ein wenig Wasser gebe.»
Wildtomaten und Andenbeeren
Umso mehr liebt sie Schnittblumen. Allerdings nur die zum Selberschneiden, nicht «dieses traurige Zeug» aus dem Supermarkt, das so oft aussehe wie Plastik und dessen Ökobilanz meist eine Katastrophe sei. Wenn überhaupt, kauft sie nur Schweizer Blumen. Und wenn immer möglich, geht sie diese selbst pflücken. «Ich flippe jedes Mal von neuem aus, wenn ich in einem Blumenfeld stehe. Diese prallen Stängel und Blätter! Dieses Geräusch von frisch geschnittenen Tulpen, die knirschen, wenn sie sich berühren! Ich kann nicht ohne Blumen sein.»
In ihrem Schrebergarten experimentiert sie aber vor allem mit Gemüse und Kräutern. Zum Beispiel mit der Wildtomate. Einer Wildform der ursprünglichen Tomate, die ganz anders wächst, nämlich in Form eines ausladenden Buschs, und kleine, zuckersüsse Früchte produziert. Oder Andenbeeren, diese orangefarbenen Dinger, die oft als Dekoration auf Desserts thronen und achtlos zur Seite gelegt werden, obschon sie wahre Vitaminbomben sind.
Einen grünen Daumen habe sie trotzdem immer noch nicht. «Es ist nicht so, dass ich die Pflanzen nur anzuschauen brauche, und schon wachsen sie schön. Ich muss meinen fehlenden grünen Daumen durch Wissen kompensieren.» Für all jene, denen es geht wie ihr, schreibt sie neu einmal monatlich im «Tages-Anzeiger» eine Gartenkolumne. Sie ersetzt damit Sabine Reber. Die erste Kolumne von Wanda Keller erscheint am nächsten Freitag.
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