Fussball in Zeiten der Krise
Morgen tritt YB bei Dynamo Kiew an. Die Unruhen vom Maidan und der Konflikt im Donbass haben den Fussball in der Ukraine verändert. Ein Fan erzählt.

Am Wochenende war es mal wieder Zeit für das bizarre Schauspiel. «Clásico» in der Ukraine ist, wenn die zwei grössten Clubs Hunderte Kilometer auf sich nehmen, um auf neutralem Boden ein «Heimspiel» auszutragen. Schachtar Donezk gegen Dynamo Kiew heisst das traditionsreichste Duell im ukrainischen Fussball. Schachtar, der Verein aus der Donbass-Region im Osten der Ukraine, trainiert in seinem temporären Clubheim südlich von Kiew (700 Kilometer von Donezk entfernt) und spielt in Charkiw, hoch oben im Norden, 300 Kilometer von zuhause weg. 14'000 Zuschauer verfolgten den 1:0-Sieg Dynamos im riesigen Metalist-Stadion, kaum Stimmung, und das beim grössten Spiel der Liga.
Seit den Protesten auf dem Maidan im Winter 2014, der Flucht von Präsident Viktor Janukowitsch und dem Krieg um die Halbinsel Krim mit bald 10'000 Toten ist in der Ukraine nichts mehr, wie es war. Auch der Fussball nicht. «Creating history together» war der Slogan der EM 2012 im eigenen Land. So wörtlich meinte das damals wahrscheinlich nicht einmal die Uefa. Nebst der Politik schreibt der Fussball seine eigene kleine leidvolle Geschichte, eine von kleinem Geld und grossem Frust, von verpasstem Anschluss und unausgeschöpftem Potenzial. «Fussball in der Ukraine», sagt Jewgen Sidasch, «ist zurzeit eine ziemlich traurige Angelegenheit.»
Der 40-Jährige ist Blogger, Journalist, Fan und verfolgt den Fussball in seinem Land, seit er sich erinnern kann. Sein Herz gehört Dynamo Kiew, seit 16 Jahren betreibt er die grösste Fan-Community seines Vereins. Vor der Revolution, so erinnert sich Jewgen, da stand der ukrainische Fussball für Stolz, für aufstrebende Klasse – und für viel Geld. 2009 gewann Schachtar Donezk den Uefa-Cup, dank den Toren zweier Brasilianer, dank den Millionen von Rinat Achmetow. Der Industrielle stand stellvertretend für all die schwerreichen Oligarchen und Geschäftsleute, die während etwa zehn Jahren Milliarden in die Clubs gepumpt haben.
Davon ist nicht mehr viel übrig. Die traurigen Zahlen: Von den einst 16 Mannschaften spielen nur noch 12 in der höchsten Spielklasse des Landes. Teams wie Charkiw oder Arsenal Kiew gingen in Konkurs, andere wie Schachtar oder Olimpik aus dem kriegsgebeutelten Osten des Landes waren gezwungen, die Region zu verlassen. 2012 kamen im Schnitt 12'000 Zuschauer zu den Spielen, heute sind es noch 4500.
Investoren weg und Ultras vereint
Mit der politischen Befreiung der Ukraine begann gewissermassen der Niedergang des Fussballs. Gegen eine halbe Million Demonstranten verschafften sich ab November 2013 auf dem Maidan Gehör. Als Janukowitsch schliesslich gestürzt wurde, waren die Investoren plötzlich alle weg. Viele von ihnen steckten mit dem korrupten Ex-Staatschef unter einer Decke – prominentestes Beispiel: Sergej Kurtschenko von Metalist Charkiw. Keine zwei Monate nach dem Sturz von Janukowitsch setzte er sich nach Russland ab – noch heute läuft am europäischen Gerichtshof ein Verfahren gegen ihn wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder.
Jewgen Sidaschs Erinnerungen an die Proteste sind noch lebhaft. Er wohnt in Kiew, nicht unweit des Maidan. Damals mitten drin: Ultras von Dynamo. «Sie brachten ihre Erfahrung im Umgang mit der Polizei in die Proteste ein.» Und peu à peu zeigte sich auch, was Beobachter wie Sidasch heute als eine der erstaunlichsten Entwicklungen der Krisenjahre im ukrainischen Fussball bezeichnen: Neben den Dynamo-Ultras marschierten plötzlich solche von Dnipro, später von Metalist Charkiw und irgendwann sogar von Schachtar Donezk.
Später sollen viele junge Männer aus den rivalisierenden Fan-Kreisen Schulter an Schulter an die Front im Osten gezogen sein, wo es ernst galt: Krieg gegen die prorussischen Separatisten. Die fast ausschliesslich nationalistisch eingestellten Fussballfans eint der gemeinsame Feind: Russland. «Sogar die Schachtar-Fans aus der ansonsten gespaltenen Region im Donbass denken proukrainisch», sagt Jewgen. Aber eben, das liebe Geld. Mit ihm gingen auch die Spieler. Die Löhne sind eingebrochen, im internationalen Vergleich ist die Liga kaum mehr konkurrenzfähig. «Natürlich verdient Jarmolenko bei Dynamo 6 Millionen jährlich», sagt Sidasch, «doch früher gab es in der Liga auch durchschnittlich noch 10'000 Dollar pro Monat. Bei einigen Vereinen sind es heute nur noch 1000.»
Noch 2012 waren fast die Hälfte aller Fussballer in der Liga Legionäre – heute sind es noch knapp 20 Prozent. Die internationalen Truppen von Schachtar und zum Teil Dynamo bilden die Ausnahme. Eine Chance für junge, einheimische Fussballer? «Durchaus», bestätigt Sidasch, der auch von den Spielen der U-21 Dynamos berichtet. «Doch beim erstbesten Angebot aus dem Ausland sind auch die weg. Sie wechseln heute auch in schwächere Ligen, nach Weissrussland, Kasachstan, Moldawien.»
Hoffen auf die Uefa-Millionen
Das Kuriose an der ganzen Flaute ist: Für Investoren wären die Verhältnisse günstig wie nie. Die Clubs gibt es zum Spottpreis, bei einigen beträgt das Jahresbudget gerade mal noch eine Million Dollar. Dass sich dennoch kaum Geldgeber finden, erscheint verständlich, wenn man die möglichen Einnahmequellen einmal genauer anschaut. Die Eintrittspreise sind eingebrochen und zum Teil lächerlich tief, «Meisterschaftsspiele für zwei Dollar sind keine Seltenheit», weiss Sidasch.
Noch schlimmer steht es um die TV-Gelder. Der Markt ist fast tot, die Clubs teilen sich noch etwa vier Millionen Dollar auf. Zum Vergleich: In der Schweiz beläuft sich dieser Betrag auf 35 Millionen Franken, zählt man die Marketingrechte hinzu, sind es über 50 Millionen Franken.
Vor diesem Hintergrund sind Transfers wie jener von Aleksandar Dragovic, der vergangene Saison für 18 Millionen Euro von Dynamo zu Leverkusen wechselte, natürlich Gold wert. Dazu kommen die Einnahmen aus den Uefa-Wettbewerben – in der Champions League bis zur Gruppenphase etwa 16 Millionen Euro.
Entsprechend viel Druck wird morgen auf den Spielern von Dynamo lasten, wenn sie gegen die Young Boys um ebendiese Millionen spielen. «Vielleicht ist genau das die Chance für YB», sinniert Jewgen Sidasch. Die Erinnerung an einen Stolperer gegen ein Schweizer Team sind bei ihm noch frisch: 2005 sass er als Club-Chronist im Stade de Suisse – als der FC Thun gegen die Ukrainer in die Champions League einzog.
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