Früher Banker, jetzt Coach für Kriminelle
Steve Dagworthy jonglierte mit Millionen, ehe er wegen Betrugs verurteilt wurde. Jetzt bereitet er Wirtschaftskriminelle auf das Leben hinter Gittern vor.

Es ist eine komplett fremde Welt, auf die Steve Dagworthy seine Kunden vorbereitet. «Der grösste Fehler wäre es, zu denken, dass man die kommenden Monate oder Jahre einfach in einem sehr schlechten Hotel verbringt», sagt Dagworthy. «Ein Gefängnis ist kein schlechtes Hotel, sondern ein anderer Planet.» Der Engländer hielt sich selbst drei Jahre auf diesem Planeten auf. Er arbeitete als Broker in der Londoner City, dann geriet er auf die schiefe Bahn und wurde wegen Anlagebetrugs zu sechs Jahren Haft verurteilt. Von denen verbüsste er die Hälfte.
«Ich kam in meinem teuren Anzug im Gefängnis an und fragte erst einmal einen Wärter, ob ich nun duschen könne», sagt der heute 52-Jährige. «Der schaute mich an, als sei ich verrückt.» Dagworthy sagt, er habe keine Ahnung gehabt, was ihn erwarte: «Es hat Monate gedauert, bis ich verstanden habe, wie das Leben hinter Gittern funktioniert.» Dieses Wissen gibt er jetzt weiter an andere Menschen, denen erstmals Gefängnis droht. Und die sich sein Honorar leisten können. Ein dreistündiges Gespräch, das frisch gebackene Verbrecher auf ihr neues All-Inclusive-Domizil einstimmt, kostet umgerechnet gegen 650 Franken, plus Mehrwertsteuer.
Sechs Berater, 70 Klienten
Seine Kunden sind vor allem Wirtschaftskriminelle, etwa betrügerische Banker oder Steuersünder der übleren Kategorie. Die Idee für das Geschäft kam Dagworthy noch in Haft, in «Her Majesty's Prison Hollesley Bay» nordöstlich von London. Er las dort einen Zeitungsartikel über den amerikanischen Gefängnisberater, der dem Anlagebetrüger Bernie Madoff geholfen hatte, und dachte sich, dass so ein Angebot in Grossbritannien fehlt. «Meine Karriereaussichten als Ex-Sträfling waren nicht gerade berauschend, also entschloss ich mich, es zu versuchen», sagt er. Nach seiner Entlassung gründete Dagworthy 2013 die Firma Prison Consultants.
Inzwischen arbeiten sechs Berater für die Gesellschaft. Die waren wie Dagworthy einst erfolgreiche Manager oder Beamte, deren Karrieren aber eine Haftstrafe – etwa wegen Betrugs oder Bestechlichkeit – abrupt beendete. Zudem gehört ein früherer Gefängnisdirektor zum Team, «doch die meisten Kunden wollen von Ex-Häftlingen vorbereitet werden», sagt Dagworthy.
Im Moment hilft die Londoner Firma 70 Klienten, 55 Fälle wurden abgeschlossen. «Das Geschäft nahm erst im vorigen Jahr richtig an Fahrt auf», sagt der Berater. Die Prison Consultants unterstützen einige Kunden auch während deren Haftzeit: Sie kümmern sich um deren Belange ausserhalb des Gefängnisses. Und sie helfen dabei, möglichst schnell eine Verlegung in den offenen Vollzug zu erreichen. Also in ein Gefängnis ohne strenge Sicherheitsvorkehrungen, das die Sträflinge tagsüber verlassen dürfen, um arbeiten zu gehen.
Drakonische Strafen gegen Banker
Einem erfahrenen Berufsverbrecher werden die Sitzungen mit Dagworthy wenig Neues bringen. Aber in den vergangenen Jahren sei die Zahl vorher unbescholtener Bürger, die ins Gefängnis geschickt wurden, rasant gestiegen, sagt er. «Das sind etwa Steuerbetrüger oder Banker, denen gar nicht klar war, dass sie für ihre zwielichtigen Tricks eingebuchtet werden können.» Tatsächlich verhängen englische Gerichte gegen Banker oft Haftstrafen, die – verglichen mit Strafen in Deutschland oder der Schweiz – drakonisch wirken.
So verurteilte im August 2015 der Southwark Crown Court in London Tom Hayes für die Manipulation des Leitzinses Libor zu 14 Jahren. Später wurde das Strafmass auf elf Jahre verringert, aber auch das ist für ein Verbrechen happig, bei dem niemand verletzt oder mit Waffen bedroht wurde. Im vorigen Monat schickte das gleiche Gericht einen korrupten Manager der Bank HBOS für elf Jahre hinter Gitter.
«So hohe Haftstrafen für Wirtschaftskriminelle, die Ersttäter sind, sind ein Witz», sagt Dagworthy. «Ein Jahr Gefängnis reicht doch, damit die so etwas nie wieder tun. Warum sollten die fünf weitere Jahre einsitzen?» Das erschwere die Eingliederung in die Gesellschaft. Häftlinge, die keine Gefahr darstellten, sollten besser unter Auflagen und mit elektronischen Fussfesseln früher heimgeschickt werden, findet er.
Zwei Drittel mehr Häftlinge
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Zahl der Häftlinge in England und Wales steigt kräftig. Sassen 1995 etwa 51 000 Verbrecher ein, waren es 2016 gut 85 000, zwei Drittel mehr. Und fast zwei Drittel der 118 Gefängnisse sind überbelegt. Zugleich spart die Regierung im Strafvollzug, seit 2010 gingen 7000 von 25 000 Stellen beim Gefängnispersonal verloren. Entsprechend heikel ist die Lage in vielen Haftanstalten. Im vergangenen Jahr begingen 119 Sträflinge Selbstmord, ein trauriger Rekord. In einem Gefängnis in Birmingham kam es vergangenen Dezember zum schlimmsten Aufstand, den das Land seit 25 Jahren erlebt hat.
«Unser System des Strafvollzugs ist total im Eimer», sagt Dagworthy. Das Gefängnis in Birmingham ist eines von 14, das Unternehmen im Auftrag des Staates betreiben. «Mich wundert der Aufstand dort nicht», sagt der Berater. «In den privat geführten Gefängnissen sind die Wärter oft schlechter ausgebildet.» Dagworthy sass in einem überfüllten Gefängnis ein. «Wir waren zu dritt in einer Zelle, die für zwei ausgelegt war», erinnert er sich. «Wir konnten nur der Reihe nach aufstehen und uns anziehen, weil es so eng war.» Zudem musste er im Gefängnis schlimme Gewalt mitansehen. «Haftanstalten sind sehr gewalttätige Orte. Ich habe mitbekommen, wie man jemandem die Kehle aufschlitzt, ich wurde Zeuge übler Schlägereien.»
Sich nur keine Feinde machen
Gewalt unter den Insassen sei die grösste Sorge der Ratsuchenden, sagt Dagworthy. «Wir erklären, wie sie Ärger aus dem Weg gehen.» So sollten Wirtschaftskriminelle besser nicht verraten, warum sie im Gefängnis sitzen. «Sonst denken andere, du bist reich, und es gibt etwas bei dir zu holen.» Allgemein gehe es in der Haft nicht darum, Freunde zu finden, sondern Feinde zu vermeiden. Manche Jobs sind ebenfalls heikel: «Wer in der Küche arbeitet, wird nach grösseren Portionen gefragt. Wer im Garten arbeitet, wird gefragt, ob er Päckchen aufsammeln kann, die jemand über die Mauer geworfen hat. Beides macht Probleme.»
Jeder Gefängnisflügel sei wie eine Dorfgemeinschaft, und de facto führten ihn die langjährigen Häftlinge als Dorfälteste zusammen mit den Wärtern, erklärt er. «Ein Neuer muss sich seine Position suchen: Dorfältester, Dorfdepp oder irgendwas dazwischen. Am einfachsten ist die Position dazwischen.» Wichtig sei auch, richtig für den Haftantritt zu packen – etwa widerstandsfähige Wäsche mitzunehmen. Sträflinge dürfen eigene Kleidung tragen, und die Alternative, die Gefängnisklamotten, sei «unerfreulich», sagt er. T-Shirts mit Wappen von Fussballklubs seien aber ungeeignet, da sie zu Konflikten führen könnten.
Gefängnisse sind eben wie ein anderer Planet. Wohl dem, der die ungeschriebenen Regeln auf diesem Planeten kennt.
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