Berner Film über Kriegsforensik«Es kommt sehr darauf an, welche Knochen man zeigt»
Der Filmemacher Jan Baumgartner begleitete Forensiker in Bosnien, die versuchen, Kriegsopfer zu identifizieren. «Die DNA der Würde» ist nun an der Tour der Lorraine zu sehen.

Jan Baumgartner, Ihr erster Film handelte von Minenentschärfern in Bosnien. Für Ihren neuen Film begleiteten Sie Forensiker bei der Suche nach Knochen, ebenfalls auf dem Balkan. Was ist Ihre Verbindung zu dieser Region?
Nach Sarajevo kam ich erstmals vor 20 Jahren – damals noch als Jugendlicher für einen Austausch der Steinerschule mit dem dortigen Gymnasium. Diese Reise hat mich verändert, das hat mich nie mehr losgelassen. Sarajevo hat mich völlig fasziniert. Ich habe mich in das Land und die Leute komplett verliebt. Gleichzeitig haben mich die zerbombten Städte erschüttert. Ich habe begriffen, wie sehr die Menschen dort von der Kriegserfahrung geprägt sind und deshalb ganz anders auf das Leben schauen als zum Beispiel wir hier in der Schweiz. Seither versuche ich, zu verstehen, was Krieg mit den Menschen macht.
Wann waren Sie das letzte Mal auf dem Balkan?
Vor vier Monaten. Meine Freundin lebt in Sarajevo. Wir haben dort eine Wohnung.
Im Westbalkan brodelt es wieder. Was spüren Sie, wenn Sie dort sind?
Eine Spannung, wie ich sie in den letzten 20 Jahren, seit ich regelmässig dorthin reise, so noch nie gespürt habe. Einerseits sind die Menschen sehr gefordert, ihren Alltag zu finanzieren, weil alles viel teurer geworden ist. Andererseits ist da die Angst, dass es wieder einen neuen Krieg geben könnte.

Wie zeigt sich diese Spannung?
Die Menschen lassen sich zum Beispiel neue Pässe machen, weil ihnen im Bosnienkrieg die Pässe fehlten, um zu fliehen. Oder ich habe Freunde, die sich plötzlich für Waffen interessieren, obwohl sie eigentlich überhaupt keine Affinität dafür haben. Ich habe das auch erst gerade erfahren: In Bosnien gab es während des Krieges ein Embargo. Die Menschen konnten sich keine Waffen kaufen, um sich zu verteidigen. Daran erinnern sie sich und wollen vorsorgen.
Was löst der Krieg in der Ukraine in den Menschen aus?
Sie haben Angst davor, dass das, was in der Ukraine passiert, auch auf den Balkan überschwappen könnte. Wenn wir hier in der Schweiz die Bilder aus der Ukraine sehen, ist das etwas anderes. Wir haben keine direkte Verbindung. Hier bei uns hat ja kaum jemand je einen Krieg erlebt. Für die Menschen auf dem Balkan sind diese Bilder lebendig, verknüpft mit Gerüchen, sie spüren sie mit allen Sinnen. Ein Nachbar von uns kann zum Beispiel noch heute kaum sein Haus verlassen, weil Geräusche auf der Strasse Erinnerungen an den Krieg wachrufen und ihn in Panik versetzen.
«DNA der Würde» ist eine Dokumentation über die Arbeit von Forensikern, die versuchen, anhand von Knochen Kriegsopfer zu identifizieren. Auch Ihr Film könnte Erinnerungen wecken.
Ja, davor hatte ich grossen Respekt. Wir haben uns immer wieder gefragt: Was löst das bei den Menschen auf dem Balkan aus? Wie verhindere ich, die Leute zu verletzen und alte Wunden aufzureissen?
Wie sind Sie vorgegangen?
Schon bei der Konzeption des Films habe ich mich in meinem Freundeskreis umgehört und bin auf viel Skepsis gestossen. Fast alle haben mir gesagt, dass sie keine Bilder von Massengräbern mehr sehen wollen. Viele möchten mit dem Thema abschliessen und den Krieg vergessen. Wir haben versucht, diese Kritik aufzufangen und die Geschichte, die wir erzählen, mit etwas Hoffnungsvollem zu verbinden. Deshalb haben wir uns auch für einen sehr zurückhaltenden Film entschieden.

Wie haben Sie eine akkurate Filmsprache gefunden?
Wir haben schnell einmal verstanden, dass die Bilder weder zu schockierend sein dürfen, noch sollen sie das Geschehene beschönigen. Es war eine Gratwanderung. Wir wollten Bilder zeigen, die erträglich sind, auch hoffnungsvoll, ohne etwas zu verharmlosen.
Das ist beim Filmen über die Suche nach Knochen schwierig.
Ja. Wir haben zum Beispiel gemerkt, dass direkte Aufnahmen eines Schädels extreme Gefühle auslösen. Deshalb haben wir das vermieden. Es kommt also sehr darauf an, welche Knochen man zeigt. Wir merkten auch, dass wir sie nicht zu stark ausleuchten durften.
Der Film lebt von geradezu poetischen, schönen, oft auch grafischen Bildern. Welche Überlegungen gab es dazu?
Was wir wollten, war, eine gewisse Struktur der forensischen Arbeit zu übernehmen. Forensiker arbeiten hochpräzise. Jeder Knochen findet am Schluss seinen Platz. Es ist alles durchnummeriert und etikettiert. Diese Genauigkeit wollten wir mit der Bildsprache transportieren. Die Forensiker bringen Ordnung in das Chaos.

Man kann den Film auch als eine Hommage an den Forensiker-Beruf sehen.
Die Arbeit der Rechtsmediziner hat mich von Anfang an sehr fasziniert. Die Feinheit, die Präzision, die Unaufgeregtheit, die Sorgfalt. Aber auch ihr würdevoller Umgang mit den Knochen hat mich berührt. Wir wollten zeigen, dass das ein hochkomplexer Beruf ist, von dem kaum jemand weiss, was er alles beinhaltet. Dank diesen wenigen Leuten, die diesen Beruf ausüben, konnten bis heute 30’000 Menschen identifiziert werden. Es ging mir darum, wie bei den Minenentschärfern übrigens auch, diesen Menschen eine Plattform zu geben und zu zeigen, was sie leisten.
Warum braucht es heute diesen Film?
Wir wollen den Menschen zeigen, dass es noch eine Chance gibt, verbleibende Opfer zu finden. Für die betroffenen Familien kann die Identifizierung ihrer vermissten Angehörigen eine grosse Erleichterung sein, so können sie abschliessen und Abschied nehmen. Die unerträgliche Ungewissheit hat ein Ende. Das war unsere Vision.
Von wie vielen Vermissten sprechen wir?
Ursprünglich waren es mehr als 40’000. Noch immer gelten auf dem Balkan rund 11’000 Menschen als vermisst. Allein in Srebrenica sind es noch 1000. Es muss also noch grössere Gräber geben, die man bisher nicht gefunden hat. Die finden sich aber nur, wenn die Menschen, gerade auch Täter, sich melden und sagen, wo es noch Opfer geben könnte. Wenn wir es schaffen, mit diesem Film einen Austausch im Land anzuregen, dann haben wir viel gewonnen.
Sie haben als Hauptfigur des Films eine fiktionalisierte Frau und Mutter gewählt. Wieso?
Im Balkan ist es so, dass man ganz leicht anhand eines Namens bei einer Person darauf schliessen kann, ob sie eine Serbin oder Bosnierin, eine Christin oder eine Muslimin ist, zum Beispiel. Mit der Fiktionalisierung wollten wir verhindern, dass es zu Schuldzuweisungen kommt, dass es wieder nur um Opfer und Täter geht.
Also um die Menschen zu schützen?
Ja. Viele leben noch heute in denselben Dörfern wie damals im Krieg, in denselben Gemeinschaften. Sie können nicht einfach weg, schon rein aus finanziellen Gründen nicht. Sie sind dort verwurzelt, sie sind an ihren Ort gebunden, sie müssen mit der Geschichte leben. Es ist sehr schwierig, abzusehen, was so ein Film für Konsequenzen haben kann, ob er alte Wunden aufreisst oder alte Feindschaften weckt. Wir wollten die Frage nach der Schuld gar nicht erst stellen.
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