Es fehlt an Arbeit, nicht an Druck
Die Sozialhilfequote lässt sich mit Kürzungen beim Grundbedarf nicht senken, sagen Experten. Schliesslich gebe es nicht mehr Arbeitsplätze, wenn es den Sozialhilfebezügern schlechter gehe.

Der Regierungsrat des Kantons Bern will bei der Sozialhilfe sparen. 15 bis 25 Millionen Franken jährlich sollen es gemäss dem neuen Vorschlag der Kantonsregierung sein. Doch als reine Sparübung will Pierre Alain Schnegg, Vorsteher der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF), die Senkung des Grundbedarfs für Sozialhilfebezüger nicht verstanden wissen.
Durch die Reform soll auch «Erwerbsarbeit gegenüber dem Bezug von Sozialhilfe wieder attraktiver werden», sagt er gegenüber dem «Bund». Die Logik dahinter: Wenn der wirtschaftliche Druck auf Sozialhilfeempfänger grösser wird, bemühen diese sich intensiver um eine Stelle – und sind früher oder später damit auch erfolgreich.
Das tönt bestechend. Aber stimmt es auch? «Nein», sagt jedenfalls Michael Nollert, Professor für Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Freiburg. «Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger funktionieren leider nicht so, wie es das ökonomische Menschenbild vorsieht – das zeigen viele Studien.» Für ihn sei deshalb «nicht nachvollziehbar», wie die bernische Kantonsregierung eine solche Reform vorlegen könne. «Es ist Politik aus dem Bauch heraus, sie basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.»
Jobs fehlen
Ins gleiche Horn bläst Renate Salzgeber. Die Ökonomin hat bis vor kurzem an der Berner Fachhochschule doziert und an mehreren Studien zur Sozialhilfe mitgewirkt. «Sozialhilfeempfänger brauchen nicht noch mehr Druck, sie brauchen Sicherheit», sagt sie. Denn erst wenn in ihren Leben Ruhe einkehre, hätten sie die Kraft, sich mit Engagement der Arbeitssuche zu widmen.
«Eine massive Kürzung der Sozialhilfe treibt die Leute eher in die Illegalität als in den Arbeitsmarkt.» Besonders schlimm seien die Folgen für Kinder von betroffenen Familien. «Wenn die Eltern kaum genug Geld haben, um das Essen zu bezahlen, verschwenden sie kaum Energie in die Ausbildung ihrer Kinder.»
Auch Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos), bezweifelt die positive Wirkung von ökonomischem Druck. «Mir sind keine Studien bekannt, die das belegen würden», sagt er. Das Hauptproblem ist für ihn aber ein anderes. «Es fehlen schlicht die Jobs für Sozialhilfebezüger.» Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote bei Niedrigqualifizierten bei 11 Prozent. Probleme, solche Stellen zu besetzen, existieren kaum. «Es gibt nicht plötzlich mehr Stellen, wenn man bei der Sozialhilfe spart.»
100 Bewerbungen, ein Gespräch
Und selbst wenn es im Niedriglohnsektor freie Stellen gibt, gehören Langzeitarbeitslose nicht zu den bevorzugten Bewerbern. Eine Untersuchung des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt, dass Arbeitslose bei gleichbleibender Bewerbungsfrequenz je weniger zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden, je länger die Arbeitslosigkeit dauert.
So hatten die Arbeitslosen bei zehn Bewerbungen pro Monat am Anfang im Schnitt 0,7 Bewerbungsgespräche, nach zwei Jahren waren es noch 0,1 Bewerbungsgespräche. Das heisst: Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit zog nur noch jede 100. Bewerbung eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch nach sich.
Felix Wolffers, Leiter des Stadtberner Sozialamts und Vorstandsmitglied der Skos, kennt die Studie. «Ich werde fast depressiv, wenn ich mir sie anschaue», sagt er. Konkret zu den regierungsrätlichen Vorschlägen äussern will er sich zwar nicht, er sei aber grundsätzlich eher pessimistisch, was die Zukunft von Sozialhilfeempfängern anbelangt.
«Die offenen Stellen für Unqualifizierte nehmen ab – etwa durch Rationalisierung wie die ‹Self-Check-out-Kassen› bei den Grossverteilern.» Gleichzeitig drängten immer mehr Menschen, etwa aus dem Asylbereich, in den Sektor für Niedrigqualifizierte. «Wenn man die Kosten für Sozialhilfe langfristig in den Griff bekommen will, muss man vor allem in die Ausbildung der Betroffenen investieren.»
Tiefe Löhne sinken weiter
Eine Studie der Uni Heidelberg weckt Hoffnungen, wenngleich für Langzeitarbeitslose zweifelhafte: Wirtschaftswissenschaftler untersuchten die Folgen von verringerten Sozialleistungen auf den Arbeitsmarkt. In der theoretischen Abhandlung kamen sie zum Schluss, dass sich zwar tatsächlich die Arbeitslosenquote mit Sozialhilfe-Kürzungen senken lässt. Dies aber nur aus einem Grund: Die Reallöhne im Niedriglohnsektor sinken aufgrund der gesteigerten Arbeitsnachfrage. Und wenn Arbeitskräfte günstiger werden, stellen Unternehmen mehr Leute ein.
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