Erfolg mit der Brechstange
Die in Zürich lebende Tina Turner hat am ersten ihrer beiden ausverkauften Hallenstadion-Konzerte dem Hochleistungs-Entertainment gefrönt und sich dabei zum guten Glück nicht bloss als Kind der Achtzigerjahre präsentiert.

Die dringlichste Frage der Menschen und etwelcher Integrationsbeauftragter sei vorab beantwortet: Wird die im zürcherischen Küsnacht wohnende Tina Turner ihr Heimpublikum auf Zürideutsch begrüssen? Sie tut es nicht – das Publikum wird mit einem legeren «hi everybody» willkommen geheissen. Fulminant ist das Erscheinen der Frau Turner im Zürcher Hallenstadion trotzdem. Sie startet ihre 140-minütige Revue nämlich von einem hydraulischen Hochsitz aus, mit welchem sie sich auf die Bühne senken lässt. Wie alles Gute kommt auch Tina Turner von oben, und zwar in einem gülden glitzernden Showkostüm mit sonderbarem Stoff-Brustpanzer und mit einer Zwanzigerschaft Lieder aus einer beinahe fünf Dekaden umfassenden Karriere. Dass Tina Turner nach ihrem Abschied vor acht Jahren wieder auf die Bühnen der Welt zurückgekehrt ist, ist eine Folgerichtigkeit einer Karriere, die praktisch nur aus Comebacks bestanden hat. Aus Triumph, Rückschlägen und Wendepunkten. Hohn der Historie: Je schlechter es ihr im häuslichen Umfeld erging, desto dringlicher war ihre Musik. Die Ehe mit ihrem musikalischen Partner, dem begnadeten und drogensüchtigen Ike Turner, soll ein Konkubinat des Schreckens gewesen sein. In der Musik, welche Ike und Tina Turner in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren in die Welt schleuderten, war davon wenig zu spüren. Hier duellierten sich soulige Leidenschaft und aufbegehrender Rock'n'Roll, ihre Auftritte waren ekstatisch und ungestüm, ihr vom Produzenten Phil Spector geprägter Sound euphorisierend, monumental und doch meistens von einer aufreizenden Lässigkeit. Auch wenn Tina Turner nach ihrer Scheidung von Ike Turner auf alle Rechte an der gemeinsamen Musik verzichtete und sämtliche Nachfragen zu diese Zeit unerwünscht sind, klammert sie dieses Kapitel in ihrer Zürcher Revue nicht aus. Stücke wie «Proud Mary», «River Deep Mountain High» oder «Nutbush City Limits» werden – so gut das mit ihrer sachdienlichen, aber wenig charakterstarken Band eben so geht – im dichten und kantigen musikalischen Duktus der Sechziger gehalten und sorgen dementsprechend für die markantesten Hochgefühle des Abends.Und trotzdem regiert im Hallenstadion weniger die unbeschwerte Aufwallung als vielmehr die durchchoreografierte Ordnung – nicht das ungezügelte Aufbegehren ihrer Frühwerke, sondern die durchgestylte Opulenz ihrer populärmusikalischen Hochkonjunkturphase.Diese begann ungünstigerweise mitten in den künstlerisch dubiosen Achtzigerjahren. Nach der Trennung von Ike dümpelte Tina Turner 1978 in einer hartnäckigen künstlerischen Orientierungslosigkeit. Zunächst versuchte sie sich als Rhythm-'n'-Blues-Sirene, um kurze Zeit später ins Disco-Milieu zu wechseln. Beides floppte, ihre Plattenfirma EMI hielt nur noch wegen ihrer anhaltenden Popularität in Europa zu ihr. Und was tun Plattenfirmen, kurz bevor sie einen Künstler fallen lassen? Sie holen die Pop-Brechstange in Form erfolgerprobter Allzweck-Produzenten hervor, die aus der alternden Soul-Lady eine Pop-Interpretin machen sollten. Die Mannschaft leistete ganze Arbeit. Sie knickten der Musik von Tina Turner alle rockigen Hörner, setzten anstelle lauter Gitarren digitale Synthesizer, die mal nach Panflöten, mal nach Streichorchester klangen, und sie zettelten Saxofonsoli mit klebrigstem Sexappeal an – ganz im Geiste der Popmusik der 80s eben. Eine Zeit, in der eine Plattenfirma noch die Macht und das Schmiergeld besass, die Radiostationen dazu zu nötigen, ihre neuesten Ergüsse vorbehaltlos zu spielen. Der Erfolg blieb nicht aus: Das Album «Private Dancer» verkaufte sich über elf Millionen Mal, Tina Turner wurde mit 44 Jahren zur damals ältesten Künstlerin, die in den USA einen Nummer-1-Hit landete. Klar, dass sie von diesem Erfolgsrezept im Lauf ihrer weiteren Karriere nie mehr Abstand nahm, und offensichtlich wird, dass auch ihre Garderobe und ihr Haardesign bis heute unter dem Einfluss dieser Zeit stehen. Gegen Ende des ersten Sets (bei Konzertmitte gönnt sich Tina Turner ein halbstündiges Kunstpäuschen) ist endgültig Schluss mit fröhlicher Sixties-Ausgelassenheit. Für den Evergreen «Private Dancer» darf der Keyboarder die digitalen Panflöten wieder bemühen, für «What's Love got to Do with It» kramt Tina Turner das kürzeste und roteste aller Kleider aus der Garderobe, um dem Publikum einen Blick auf die meistbeachteten Beine des Popbusiness zu gewähren. Ja, die Beine. Nicht die Frucht ausdauernder Muskelstudio-Sessions oder eines turnerschen Turnprogramms, wie man stets glaubte. Nein, sie sollen durch das jahrelange Tragen hochhakigen Schuhwerks ganz von selbst dergestalt in Form gekommen sein, wie Frau Turner kürzlich verraten hat. Für den Hit «We Don't Need Another Hero» werden diese Beine dann in jene quasi-futuristische Tracht gesteckt, in welcher Tina Turner im Mad-Max-Film «Jenseits der Donnerkuppel» cineastisch in Erscheinung trat, die Showtruppe tanzt dazu etwas musicalhaft Verschlüsseltes. Die Halbzeitpause kommt also gerade recht, der geschmackliche Tiefpunkt liegt hinter dem 11000-köpfigen Auditorium.Tina Turner ist eine Rätselfrau. So richtig nah kommt man ihr nicht, auch wenn sie zwischendurch kumpelhaft mit dem Publikum schäkert, auch wenn sie mit einem Kranausläufer volksnah über die Zuschauerköpfe geschwenkt wird. Da steckt viel garstiger Entertainment-Ehrgeiz in der staunenswerten Altersvitalität dieser 69-jährigen Frau, deren Bühnen-Energie jene ihrer fünfzig Jahre jüngeren Konkurrentinnen noch immer um ein Vielfaches übertrifft. Sie ist eine Hochleistungs-Entertainerin mit einer Stimme, die kaum an Nachdruck und Energie eingebüsst hat. Eine Stimme, die dem Lauten und Grellen weit mehr zugetan ist als dem Linden und Subtilen. Und wenn diese Frau sich zum Tenu-Wechsel kurz in den Hinterbühnenbereich verzieht, müssen schon gehörig knallende Pyrotechnik-Wunder abgefeuert und durch die Luft wirbelnde Kung-Fu-Kämpfer und Säbeltänzer aufgeboten werden, um den Stimmungsfaden nicht abreissen zu lassen. Dass sie das ganze Brimborium nicht brauchte, offenbart eine viertelstündige Sequenz nach der Pause, in welcher es sich Tina Turner und ihre Band auf ein paar Barhockern bequem machen und dem unaufgeregten Musizieren ohne Showtruppe und Kung-Fu-Firlefanz frönen.Böse Zungen beharren auf der Einschätzung, dass Tina Turner, die in ihrer Karriere kaum eigene Songs geschrieben hat, ihren Erfolg primär der Strategie ihrer Plattenfirma und dem Geschick ihrer Produzenten verdankt. Nach dem Konzert in Zürich wird offenbar, dass diese Einschätzung zu kurz greift. Vermutlich liegt das wahre Verdienst der Tina Turner gerade darin, selbst zu digitalen Panflöten eine musikalische Inbrunst entfacht zu haben, welche die Menschen noch heute zu stehenden Ovationen befeuert.
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