Erdogan kämpft gegen die Geister, die er rief
Nach dem Terroranschlag in der südtürkischen Stadt Suruc gehen Behörden und Medien davon aus, dass der IS die Gräueltat begangen hat. In der Kritik steht auch die Politik von Recep Erdogan.

Die Zahl der Todesopfer beim Bombenattentat in der südtürkischen Stadt Suruc ist auf 31 gestiegen. Weil etwa 20 der rund 100 Verletzten in Lebensgefahr schweben, ist zu befürchten, dass sich die Zahl der Toten in den nächsten Tagen noch erhöhen wird. Eine Gruppe Jugendlicher aus den Städten Istanbul, Izmir und Adana war in das vorwiegend von Kurden bewohnte Suruc gereist. Sie wollte beim Wiederaufbau der Grenzstadt Kobane in Syrien helfen, die bei Gefechten zwischen kurdischen Kämpfern und Mitgliedern der islamistischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) weitgehend zerstört wurde. Kobane liegt lediglich 15 Kilometer von Suruc entfernt.
Als die Aktivisten der sozialistischen Jugendorganisation gestern im Garten des Kulturzentrums Amara eine Pressekonferenz abhielten, explodierte eine Bombe. Auf einem Video ist zu sehen, wie inmitten der Menschenmenge ein Feuerball aufsteigt. Augenzeugen zufolge spielten sich danach grässliche Szenen ab. Verletzte hätten geschrien, im Garten seien abgetrennte Körperteile herumgelegen.
Türkische Behörden und Medien gehen davon aus, dass eine achtzehn- bis zwanzigjährige Selbstmordattentäterin des IS die Gräueltat begangen hat. Sollte sich die Vermutung bestätigen, wäre es der erste Anschlag des IS auf türkischem Boden. Der kurdische Politiker Selahattin Demirtas machte allerdings den türkischen Staatschef Recep Erdogan für das Attentat mitverantwortlich. Demirtas ist Chef der Partei HDP, die bei den Parlamentswahlen am 7. Juni als erste kurdische Formation die 10-Prozent-Hürde überwand und nun 80 Abgeordnete stellt, darunter Demirtas selber. «Die Staaten und Regimes, die dem IS und ähnlichen brutalen Einheiten Unterstützung zukommen lassen, haben eine Mitschuld an dieser Barbarei. Die politischen Führer Ankaras, die die HDP täglich bedrohen und nicht genug Mut haben, den IS anzuklagen, sind ebenfalls mitschuldig», sagte der Politiker.
«Der Feind meines Feindes ist mein Freund»
Auch internationale Kommentatoren betonen, Erdogan kämpfe gegen Geister, die er selber gerufen habe. Die türkische Regierung hat die islamistischen IS-Terroristen zumindest indirekt unterstützt, indem sie ihnen erlaubte, die syrisch-türkische Grenze zu überqueren, und indem sie ihnen das Grenzgebiet als Rückzugsraum zur Verfügung stellte. Laut einheimischen Journalisten hat der türkische Geheimdienst überdies islamistische Fanatiker mit Waffen und Munition beliefert. Dadurch versuchte die türkische Regierung den IS auf zweifache Weise zu instrumentalisieren: Zum einen sollte die Terrormiliz den Sturz des verhassten syrischen Assad-Regimes beschleunigen; zum anderen befürchtet Erdogan, die selbstverwalteten kurdischen Gebiete im Nordirak und in Syrien könnten sich zusammenschliessen und zur Keimzelle eines unabhängigen Kurdistans werden. Dies wiederum würde die territoriale Integrität der Türkei bedrohen, weil im vorwiegend von Kurden bewohnten Südosten des Landes der Ruf erklänge, sich dem neuen kurdischen Staatsgebilde anzuschliessen.
Die Unterstützung oder zumindest stillschweigende Billigung des IS durch die Türkei gehorchte also dem Motto «Der Feind meines Feindes ist mein Freund». Dieses Kalkül hat sich als verhängnisvoll herausgestellt. In mehreren Städten des Landes kam es nach dem Bombenattentat in Suruc zu Kundgebungen, bei denen Demonstranten dem türkischen Präsidenten vorwarfen, er sei gegenüber der islamistischen Terrormiliz zu nachsichtig. Erdogan gerät immer stärker unter Druck, dem IS entgegenzutreten. Denn dass die Jihadisten entgegen offiziellen Beteuerungen auch in der Türkei agieren, hat sich in Suruc auf tragische Weise bestätigt.
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