Würdigung eines vergessenen KünstlersEr malte schlaksige Buben in Matrosenkleidern
Wer ist Ricco Wassmer? Für einen Soloabend hat der Tänzer Sławek Bendrat über den Schweizer Maler recherchiert, der in Bern aufwuchs – und ein einsamer Aussenseiter war.

Ein Mann in roter Badehose blickt ernst in die Kamera. An seinem Hals ein funkelnder Schmuck, sein Oberkörper ölig glänzend. Ganz jung ist er nicht mehr, und doch könnte er aus einem Gemälde von Ricco Wassmer stammen: Der Schweizer Maler (1915–1972) schuf in seinen Bildern sehnsüchtig-traumhafte Szenerien mit schlaksigen Buben in Matrosenkleidern. Häufig auch mit entblösster Brust.
Die Erscheinung in Rot ist Sławek Bendrat. Gerade prangt der Tänzer und Choreograf mit polnischen Wurzeln auf mancher Plakatsäule in der Region – als Posterboy für sein Solostück über den Künstler Ricco Wassmer. Bendrat ist Mitglied des Berner Tanztheaterkollektivs Pink Mama Theatre: eine Gruppe, die in ihren oft üppig ausstaffierten Stücken spielerisch mit Kategorien wie Geschlecht und Sexualität umgeht.

Dass Bendrat nun im Alleingang einen Abend über Wassmer realisiert, ist dem Zufall zu verdanken: Letztes Jahr stiess er am Strassenrand auf einen Bildband über den künstlerischen Autodidakten, der sich zwischen naiver Malerei und magischem Realismus bewegte, eigentlich Erich Hans mit Vornamen hiess, im Schloss Bremgarten bei Bern aufgewachsen ist und wegen seines Umgangs mit minderjährigen Modellen 1963 für ein paar Monate ins Gefängnis musste. Neun Jahre später starb er mit 56 an einem Lungenleiden.
Sławek Bendrat sagt, ihn habe besonders fasziniert, dass Wassmer – «ein talentierter Berner Künstler» – von seinem Publikum beinahe vergessen worden sei. «Nicht einmal in intellektuellen Kunstkreisen ist er bekannt.» Deshalb heisse sein Stück auch «Who is Ricco?».
Immerhin: Das Berner Kunstmuseum hat vor sechs Jahren anlässlich des 100. Geburtstags von Wassmer eine Retrospektive gezeigt. Um mehr über das Leben des angeblich tief melancholischen Aussenseiters zu erfahren, der seine homoerotische Neigung vor allem in seinen Bildern zum Ausdruck brachte, sprach Bendrat im Laufe seiner Recherchen mit Familienmitgliedern und einem früheren Modell von Wassmer. Wirklich weitergebracht hätten ihn die Gespräche aber nicht, sagt er. Dafür habe er nachspüren können, wie wenig Ricco von seinen Wegbegleitern verstanden worden sei.
«Who is Ricco?» soll aber kein autobiografisches Stück über den vergessenen Maler sein. Vielmehr stehen für Sławek Bendrat die Frage, was Kunst bewirken kann, sowie die Rolle des Künstlers oder der Künstlerin in einer globalisierten und digitalisierten Welt im Zentrum. Für ihn persönlich sei Kunst ein ständiges Überschreiten von Grenzen, sagt Bendrat. «Das sieht man auch an dieser Arbeit: Ich bin 40 Jahre alt und stehe immer noch als Tänzer auf der Bühne.»
Tojo-Theater, Reitschule Bern, Donnerstag, 9. Dezember 2021, 20.30 Uhr (Premiere). Bis 12.12.
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