Gesellschaften in Krisenzeiten«Ein Klima des Gekränktseins bringt uns nicht weiter»
Wie redet man mit Menschen, die andere Meinungen vertreten, ohne dass es zu Streit kommt? Der Freiburger Historiker Volker Reinhardt weiss es.

Herr Reinhardt, wurden Sie als Geschichtsprofessor an der Uni Freiburg schon mal gecancelt?
Erfreulicherweise nicht. Ich teile selbstverständlich die Überzeugung, dass wir widerwärtige Gesinnungen wie Rassismus, Sexismus und Antisemitismus bekämpfen müssen. Aber ein Klima des Ausblendens und des Gekränktseins bringt uns nicht weiter. Klar kann man zum Beispiel finden, man sollte alle Denkmäler von ehemaligen Sklavenhändlern zerstören. Man kann aber auch sagen: Als Mahnmal sollten wir sie stehen lassen.
Wir dürfen keine Debatten abklemmen?
Es hat keinen Sinn, abweichende Meinungen zu verbieten. Dann werden sie im Untergrund nur noch beliebter und glaubwürdiger. Auch das Falsche muss sagbar sein, damit man es widerlegen kann.
Und wenn das Gegenüber nicht einmal wissenschaftliche Fakten anerkennt?
Ein bestimmter Grad an Uneinsichtigkeit lässt Gespräche natürlich scheitern. Aber man sollte sich die Motive des anderen zumindest anhören. Grosse Verschwörungstheorien gab es im Übrigen schon vor Hunderten von Jahren. In europäischen Städten des 18. Jahrhunderts ging wiederholt die These um, dass die Reichen die Armen absichtlich verhungern lassen. Sie verkauften das Getreide ins Ausland, damit im Inland die Preise stiegen. So nähmen sie bewusst in Kauf, dass die ärmsten Schichten verrecken.
Das klingt nicht völlig unglaubwürdig.
Es gab Aufstände, weil die Leute felsenfest von dieser Idee überzeugt waren. Die Behörden mussten reagieren und veranstalteten deshalb sogar Razzien, um das angeblich gehortete Getreide zu entdecken. Aber sie fanden es nie. Diese wichtigste Verschwörungstheorie Europas lässt sich also nicht belegen. Solche Argumente kann man heute vorbringen, wenn Menschen von angeblichen Wahrheiten überzeugt sind.
«Auch das Falsche muss sagbar sein, damit man es widerlegen kann.»
Sie haben eine Biografie über den französischen Philosophen Michel de Montaigne geschrieben. Was können wir von ihm über das Leben in Krisenzeiten lernen?
Montaigne befand sich ja den grössten Teil seines Lebens in extremen Krisensituationen. Die Religionskriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verwüsteten Frankreich. Er und seine Familie waren zeitweise akut bedroht. Nur dank Glück und wohl auch seiner guten Beziehungen blieb er verschont. Seine Reaktion auf das Chaos war das Schreiben und eine freundliche Miene zum bösen Spiel zu machen. Er beschloss, sich zurückzuziehen und nachzudenken: Wieso löst sich ein politisches System, eine Gesellschaft plötzlich auf? Wieso zerfleischen sich Dörfer, Nachbarschaften, Familien? Wir haben heute ja auch nicht viel schönere Zeiten, wenn wir nach Osten blicken.
Was sind seine Antworten?
Den Menschen wohnt ein Hang zur Grausamkeit inne, der wahrscheinlich angeboren ist. Seine heikelste Antwort ist, dass die Religion mit ihrem Anspruch auf alleinige Wahrheit diesen zerstörerischen Trieb erhöht. Sie sei letztlich ein Vorwand für Habgier, Neid, Mordlust und Machtstreben.
Was kann man gegen das Böse in sich tun?
Montaigne rät, in sich selber hineinzublicken. Wie ticke ich? Was treibt mich an? Wann handle ich destruktiv und weshalb? Gleichzeitig soll man Gespräche führen mit Andersdenkenden und dabei möglichst grosse Toleranz walten lassen. Man muss deren Meinungen nicht übernehmen, aber sie respektieren. Einige von Montaignes schönsten Essais sind der Frage gewidmet, wie man sich kontrovers im Gespräch unterhalten kann, ohne dass dies in Feindseligkeiten ausartet. Das ist heute nötiger denn je.
«Den Menschen wohnt ein Hang zur Grausamkeit inne.»
Montaigne hat in seinen Essais zum Teil radikal seine Meinung gewechselt – zum Beispiel avancierte er vom Frauenfeind zum Frauenbewunderer. Sind solche Kehrtwenden nicht unglaubwürdig?
Ein Leitmotiv der Essais ist die Frage: Wie verwandelt sich das Ich? Es ist bewundernswert, dass Montaigne später die alten Meinungen aus der ersten Ausgabe stehen lässt. Aus seinen Meinungswechseln zieht er den Schluss: Wenn ich selbst im Lauf einiger Jahre so oft zu anderen Einsichten gekommen bin, dann muss ich auch anderen Menschen einen grossen Toleranzspielraum einräumen.
Montaigne war in seiner Argumentation erstaunlich modern. Nicht nur, weil er für die Gleichberechtigung der Frauen war. Er hielt auch Tiere dem Menschen ebenbürtig.
Der wohl berühmteste Satz aus den Essais ist: Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer sagt mir dann, dass sie sich in Wirklichkeit nicht mit mir vergnügt? Das sind äusserst ungewöhnliche Positionen für Menschen des 16. Jahrhunderts. Montaigne drückt den Menschen herab auf ein natürliches Wesen unter anderen. Aus diesem Grund sollten Menschen seiner Meinung nach auch solidarisch mit anderen Lebewesen umgehen.

Wie kamen solche Aussagen damals an?
Viele Zeitgenossen haben das nicht gerne gelesen. Am heikelsten war aber, dass er die Religion als Katalysator für die menschliche Zerstörungswut sah. Montaigne reiste 1580/81 mit der ersten Ausgabe seiner Texte nach Rom. Das war sehr mutig und gefährlich. Im schlimmsten Fall hätte er auf dem Scheiterhaufen enden können. Die Indexkongregation, die für verbotene Bücher zuständig war, votierte aber trotz seiner gewagten Thesen für Grosszügigkeit, weil Montaigne katholisch und einflussreich war.
Später – 1676 – landeten die Essais aber doch noch auf dem Index der katholischen Kirche. Warum?
Es hat einige Zeit gedauert, bis man die Texte genauer las. Vielleicht hatten die Prälaten der Kurie auch zu wenig Französischkenntnisse, um die Gefährlichkeit der Essais sofort zu erkennen. Für damalige Gläubige waren sie voller menschlicher Überheblichkeit und zeigten viel zu wenig Gottesglaube. Deshalb kamen sie auf den Index – und blieben dort bis 1965. Gelesen wurden sie trotzdem. Sie waren ein Dauerseller.
«Montaignes Essais waren ein Dauerseller – trotz Überheblichkeit und fehlendem Gottesglaube.»
Warum waren sie so beliebt?
Das Verbot von 1676 machte die Essais noch attraktiver. Montaigne ging in der zweiten Ausgabe von 1588 sogar deutlich weiter. So macht er sich zum Beispiel lustig über die Hexenverfolgungen. Er schreibt: «Die Hexen in meiner Nachbarschaft geraten in Lebensgefahr, wenn ein neuer Autor mit seiner Einschätzung ihren Träumereien Substanz zuschreibt.» Die Formulierung zeigt, wie lächerlich er die Vorstellung findet, dass Menschen auf dem Besen durch den Schornstein reiten und Schadenszauber anrichten sollen. Das ist ein Appell gegen Fanatismus und für gesunden Menschenverstand – und natürlich zur Humanität. Aktueller kann ein Philosoph kaum sein.
Bei den Hexenverfolgungen spielte auch Frauenhass eine Rolle.
Die Verfolgungen beruhten auf einem Frauenhass, der in der christlichen Theologie des Mittelalters angelegt ist, ja. In einigen Randgebieten – zum Beispiel in Island – wurden allerdings sogar mehr Männer verfolgt. Warum, weiss man nicht.
Heute finden wir Hexenverfolgungen dumm und unmenschlich. Werden die Menschen in 500 Jahren ebenso über einige unserer Überzeugungen denken?
Wir werden ebenfalls froh sein um die Toleranz künftiger Generationen. In Bezug auf Hexen denke ich aber, dass bis heute auch in Europa ein grosser Teil der Menschen weiterhin in irgendeiner Form an sie glaubt.
An Engel glauben viele, aber an Hexen?
An Engel sowieso, aber die sind über den Verdacht erhaben, Böses zu tun. Ethnologische Untersuchungen in ländlichen Gebieten zeigen, dass man in den meisten Dörfern unter der Hand Adressen bekommt, wo man Wünsche für Liebeszauber in Auftrag geben kann. Das gibt es sicher auch in der schwarzen Variante. Oder denken Sie nur an die vielen Netflix-Serien zu Hexen.
«Wahnvorstellungen wie die Hexenverfolgungen können jederzeit wiederkommen.»
Das ist Fantasy.
Ja, aber es zeigt die grosse Popularität dieser Vorstellungen. Oft wird in Serien und Filmen ja erzählt, die moderne Hexe sei die Wiederauferstehung einer Hexe, die zum Beispiel im 17. Jahrhundert gestorben sei. Ich denke, dass die meisten Menschen, wenn sie ganz ehrlich sind, an die Möglichkeit von Zauberei glauben. Wahnvorstellungen wie die Hexenverfolgungen können jederzeit wiederkommen.
Weshalb ist die menschliche Vernunft nicht stärker als der Aberglaube?
Die Menschen wollen glauben, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als die Naturgesetze.
Warum?
Weil der Mensch in einem rein physikalisch erklärbaren Kosmos nicht einmal ein Sandkorn ist. Das erträgt er nicht. Übernatürliche Kräfte sind notwendig, damit er sich ernst genommen fühlt. Das ist auch die Erklärung für die Hexenverfolgungen: Sie wurzeln in der Überzeugung, dass die Seele des Menschen wichtig und begehrenswert ist – Gott und der Teufel streiten sich um sie.
Was ist angesichts all dieser beunruhigenden Erkenntnisse die wichtigste Lehre, die wir von Montaigne mitnehmen können?
In einem Brief an den späteren König Henri IV., der Frankreich zum Frieden führte, schrieb er: «Sie haben bisher immer die Strategie des Verzeihens geübt. Das sollten Sie weiterhin tun.» Daran können auch wir uns halten, finde ich.
Volker Reinhardt: «Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges. Eine Biographie», C.H. Beck, München 2023, 330 S., ca. 45 Fr.
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