Ein bisschen Fortschritt
Die Pessimisten haben nicht recht behalten – aber die Optimisten auch nicht. In Kosovo gewöhnen sich die Menschen langsam daran, in einem neuen Staat zu leben. Die befürchteten ethnischen Auseinandersetzungen sind ausgeblieben – der Aufschwung auch.
«Alles hat sich verändert», sagt Valdet Hoti auf die Frage, was seit der Unabhängigkeit anders sei. «Es herrscht eine Freiheit, wie wir sie vorher nie hatten», sagt der 44-jährige Techniker, der an der Uni-Bibliothek von Pristina arbeitet. man müsse sich nur umschauen: «Überall Verkehr, Chaos, Neubauten». Und das alles soll sich in einem Jahr verändert haben? Hoti schaut verblüfft: «Warum in einem Jahr? Es sind doch schon fast zehn.» Ein Missverständnis, aber kein zufälliges. Ein Jahr ist es zwar her, seit die einstige serbische Provinz sich für unabhängig erklärt hat. Vor zehn Jahren, im Juni 1999, vertrieb die Nato jedoch nach einem elfwöchigen Bombardement die serbische Armee und Polizei aus dem vorwiegend albanisch besiedelten Land. Katastrophen sind ausgebliebenDer Krieg hatte in Kosovo alles umgewälzt. Mit der Unabhängigkeit hat sich dagegen kaum etwas geändert. Immer noch laufen Schulkinder mit ihren Bauchläden durch die schicken Cafés und verkaufen Zigaretten. Immer noch wachsen in der Hauptstadt Pristina täglich neue Villen mit verspiegelten Fenstern und gedrechselten Beton-Balkons in die Höhe. Immer noch fällt täglich für Stunden der Strom aus. Nur die ausländischen Polizisten, die vor Jahresfrist noch in roten Jeeps durchs Land kurvten, fahren jetzt blau-weisse. Ausgeblieben sind die angekündigten Katastrophen. Die schlimmste Befürchtung war vor Jahresfrist, als Kosovo sich gegen den Willen Belgrads für unabhängig erklärte, dass die dort lebenden Serben massenhaft aus ihren Dörfern und dem Berggebiet im Süden Kosovos nach Serbien flüchten oder, noch schlimmer, dass sie vertrieben würden. Aber in Gracanica, dem Zufluchtsort vieler serbischer Flüchtlinge aus Pristina, geht das Nachkriegsleben weiter seinen trägen Gang. «Es ist friedlich hier», sagt Nebojsa Popovic, Postenkommandant und einer der wenigen verbliebenen Serben im Polizeidienst. Ein Einsatz in der vergangenen Nacht sei typisch gewesen: Angeheiterte Jugendliche hätten nach einem Kneipenbesuch in die Luft geballert – ein harmloses Vergnügen. Aber der Schritt zu einem Blutbad sei klein. Zusammenstösse zwischen den Ethnien hat es in den serbischen Enklaven im ersten Jahr der Unabhängigkeit keine gegeben. In der langen Taxi-Schlange am Hauptplatz stehen jetzt auch albanische Fahrer aus den Dörfern der Umgebung und langweilen sich mit ihren Kollegen – auf Serbisch. Im Wachhäuschen vor dem Kloster steht einsam ein schwedischer Soldat. «Die Stacheldrahtzäune, die wir rund um serbische Kirchen ziehen mussten, räumen wir jetzt nach und nach wieder weg», sagt Giuseppe Emilio Gay, der Kommandant der Nato-Truppe Kfor, die mit 15 000 Mann im Land steht. Der Alltag werde allmählich wieder normal. Ein Viertel lebt im AuslandSogar Politiker senden erste Friedenssignale aus. Die lokale Serben-Vertreterin Rada Trajkovic, Kinderärztin in der Poliklinik von Gracanica, hat schon angedeutet, dass sie sich auch ein Leben in einem unabhängigen Kosovo vorstellen könne.Die Pessimisten, scheint es, haben unrecht behalten – die Optimisten allerdings leider auch. Die Unabhängigkeit würde stabile Verhältnisse schaffen und endlich Investoren ins Land bringen, hatte es geheissen. «Im letzten Jahr hat es aber nicht mehr Investitionen gegeben als vorher», sagt Khaldoun Sinno von der Vertretung der EU-Kommission in Pristina. Valdet Hoti, der Techniker von der Uni-Bibliothek, gehört mit seinem festen Arbeitsplatz zu einer privilegierten Minderheit. Aber die 135 Euro, die der Techniker im Monat verdient, reichen mit der Frau, den vier Kindern und seinem 74-jährigen Vater bei Weitem nicht aus. Die Hotis haben wie die meisten Kosovaren ein eigenes Haus. Für den Strom gehen 25 bis 30 Euro weg – der grösste Einzelposten. In den Neunzigerjahren hatte Valdet Hoti im italienischen Trentino gearbeitet und den Verdienst nach Hause geschickt. Zurzeit lebt noch ein Bruder mit Familie in Oslo und schickt manchmal Geld. «Als ich noch in Italien war, ging es leichter», sagt Hoti. Kosovo ist das Land der halb gezwungenen, halb freiwilligen Heimkehrer und der zurückgelassenen Familien. Von den angeblich 1,9 Millionen Einwohnern lebt und arbeitet mindestens ein Viertel im Ausland: Die 300 000 in Deutschland und die 150 000 in der Schweiz machen zusammen schon fast die Hälfte der männlichen Bevölkerung aus. Obwohl in Kosovo kaum jemand Wertpapiere hat, fürchten sich alle vor der Finanzkrise. Kosovaren im Westen verlieren ihre schlecht bezahlten Hilfsjobs und können ihre Angehörigen daheim nicht mehr unterstützen.Produziert wird nichtsDas Leben ist schon schwerer geworden. «Wir erhalten jetzt mehr Rechnungen», sagt Krenar Gashi, ein junger Journalist. Von der Regierung und den internationalen Missionen wird das als Schritt zum Rechtsstaat gewertet. «Aber unsere Gehälter», sagt Gashi, «sind so niedrig wie eh und je.» Das Wirtschaftswachstum lag 2008 immerhin etwas höher als in den Jahren davor, mit sechs Prozent aber immer noch zu niedrig, um den Anschluss an die Region zu schaffen. Und noch immer wird kaum etwas produziert. Sogar aus dem verachteten Serbien kamen im letzten Jahr Waren im Wert von 190 Millionen Euro ins Land, meistens Lebensmittel. Die EU fördert die Infrastruktur. Im Frühling soll die erste Autobahn eröffnet werden, Abschnitt eines Balkan-Korridors, der das Schwarze Meer mit der Adria verbindet. Durch die Privatisierung von Telefongesellschaften soll Geld ins Land fliessen. In Pristina hat jeder ein Handy. Vala 900, der grösste Mobilfunk-Betreiber, könnte einen vollen Jahreshaushalt in die Staatskasse Kosovos bringen. Thaci sitzt fest im SattelMit ihrer Regierung sind die meisten Kosovaren so unzufrieden wie zuvor. Immerhin nehmen sie die Landsleute im aufwendig renovierten Post-Hochhaus von Pristina inzwischen als ihre Regierung wahr und nicht mehr als lokale Angestellte der Uno. Premier Hashim Thaci hat das Land politisch gut im Griff – schon zu gut, sagt Agron Bajrami, der Chefredaktor von «Koha Ditore», der wichtigsten Tageszeitung. «Parlamentarische Kontrolle findet so gut wie nicht statt», sagt er. Von den kleinen Oppositionsparteien stützt sich die eine auf eine Handvoll mächtiger Kriegsveteranen im Nordwesten des Landes. Die andere, ein persönliches Projekt eines internationalen Bauunternehmers, liess sich durch einen fetten Staatsauftrag ruhig stellen. Thaci hat sich als geschickter Taktiker erwiesen und sitzt nach einem Jahr fest im Sattel. Aber die Leistungsbilanz seiner grossen Koalition fällt widersprüchlich, unter dem Strich sogar mager aus. Überall gelobt wird der leise und effiziente Bildungsminister, der Hilfsgelder aus aller Welt organisiert und überall Schulen baut. Die Gesundheitsversorgung aber sei «katastrophal», sagt Bajrami. Während in Pristina Hunderte Ärzte um die schmale Schicht solventer Patienten buhlen, bleibt das Land nahezu unversorgt. Wer ins Spital geht, muss Infusionsflaschen, Gazebinden und Bettwäsche mitbringen. Als Ausrede eignet sich immer die nächste Krise. Hauptthema der Politik ist in diesen Wochen die «Herstellung der staatlichen Autorität auf dem ganzen Territorium Kosovos», wie es in den Reden der albanischen Politiker förmlich und drohend heisst. Vetevendosje, die «Bewegung für Selbstbestimmung», hat auf eine hohe Wand des Uni-Gebäudes eine riesige Karte aufgemalt. Die bedrohlichen roten Flächen darauf sollen zeigen, wie die geplante Kommunalreform angeblich zur ethnischen Teilung führt. Gemeint sind vor allem die drei serbisch besiedelten Gemeinden im Norden Kosovos. Dinar statt EuroWer im geteilten Mitrovica die berühmte Brücke über den Ibar quert, verlässt eine wuselige, laute und chaotische Albaner-Stadt mit vielen wilden Neubauten und kommt in ein ordentliches, aber aussterbendes serbisches Provinznest. Über den staubigen Schaufenstern leuchten trübe die rostigen Reklameschilder der alten jugoslawischen Kombinate. Hier wird mit serbischen Dinaren statt mit Euros bezahlt, die Autos haben serbische Nummernschilder – wenn sie überhaupt welche haben. Aber auch hier ist die Katastrophe ausgeblieben. Dass der Norden sich offen abspaltete, konnte im vergangenen Herbst gerade noch verhindert werden. Belgrad kam den Europäern weiter entgegen, als die Rhetorik hatte vermuten lassen: Wenigstens formal ist jetzt auch hier die EU-Polizeimission Eulex stationiert, alles ging glatt. Demnächst soll es auch wieder ethnisch gemischte Patrouillen geben, sagt die Sprecherin der EU-Polizei in Pristina. Nötig wären sie besonders in den beiden gemischten Wohnvierteln der geteilten Stadt, wo kleine Rempeleien leicht in ethnische Krawalle ausarten können.Ein bisschen Fortschritt wird vielleicht auch nach Mitrovica kommen – hier ist es allerdings schwieriger als in den Enklaven. Im «Dolce Vita», dem Café an der berühmten Brücke, sitzen noch immer die Brückenwächter, kräftige junge Serben, formal alle beim städtischen Krankenhaus von Mitrovica angestellt – und stets bereit, der Notfallchirurgie ihres Arbeitgebers neue Patienten zuzuführen. Aber die Radikalen waren hier schon mächtiger. Einen Steinwurf von ihrem Stammcafé entfernt residiert jetzt in einem respektablen Bürogebäude ihr Todfeind Oliver Ivanovic, ein moderater Mann, den die Reformregierung in Belgrad zum Verdruss der Radikalen zum Kosovo-Staatssekretär gemacht hat. Zwischen den Parteien herrscht seither dicke Luft. «Oliver hat überhaupt keine Unterstützung», behauptet mit grimmigem Blick sein Gegenspieler Milan Ivanovic, Oberarzt im Spital und Anführer des radikalen Serbischen Nationalrats. Sollte die EU versuchen, die Zollkontrollen zwischen Nord-Kosovo und Serbien wieder einzuführen, werde es «eine deutliche Reaktion» geben, sagte Milan vorige Woche. Inzwischen ist das geschehen; die Reaktion blieb aus.Experiment oder ProvokationWer hier wirklich die Macht hat, kann sich schon in den nächsten Wochen zeigen. Demnächst sollen nach zehn Jahren die ersten Albaner aus dem Süden der Stadt in ihre renovierten Häuser im serbischen Norden zurückkehren. Man kann es ein Experiment nennen – oder eine Provokation. Ein Risiko ist es auf jeden Fall. «Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht», sagt Rexhep Bajrami, der albanische Stadtpräsident der Südstadt. Die Kfor-Soldaten stehen Gewehr bei Fuss. «Wir zeigen uns, verhalten uns aber unauffällig», sagt Kommandant Gay; Standby-plus-Taktik nennen es seine Leute. Pieter Feith, mit allen Vollmachten ausgestatteter Vertreter der EU und der Protektoratsmächte Kosovos, unterstützt das Vorhaben: «So etwas möglich zu machen, dafür sind wir ja da», sagt er.>
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