Ein anderer hätte längst aufgegeben
Diesen Dienstag findet das letzte Abendrennen 2018 statt – mit Siegfahrer Claudio Imhof im Zentrum. Nach vielen Berg-und-Tal-Jahren schaut er zuversichtlich Richtung Tokio 2020.

Manchmal schafft es Claudio Imhof in diesen Tagen, sich mit einer profanen Erkenntnis zu beruhigen. «Das bringt dich weiter fürs Leben nach der Radkarriere», sagt er sich, wenn er sich des Nachts wieder einmal hin und her wälzt, daheim bei seinen Eltern, im Zimmer, das der bald 28-Jährige seit seiner Kindheit bewohnt. Es ist seine Zukunft, die ihn beschäftigt. Nicht die sportliche, sondern die finanzielle.
Imhof hat sein Auto auf dem besten Parkplatz vor der Oerliker Rennbahn abgestellt. So gehört sich das für den Platzhirsch. Die Vielzahl von Sponsoren-Aufklebern am Auto erzählt vom Geschäftsmodell, das Imhof in den vergangenen Jahren für sich entwickelt hat. «Einzelfahrer» und «Selbstvermarkter» nennt er sich, die vierte Saison hat er nun so bestritten. Es ist die erfolgreichste seiner Karriere geworden: An der Bahn-EM in Glasgow führte er den Vierer zu Schweizer Rekord und Silber, in der Einzelverfolgung, trotz vieler Rennen in den Beinen, holte er noch Bronze.
Das sind Resultate, die man von einem wie Imhof erwarten kann, eigentlich. Schliesslich ist er der Leader im Schweizer Bahn-Nationalteam, waren dies seine Medaillen Nummern 4 und 5 bei internationalen Titelkämpfen. Und trotzdem sind sie nicht selbstverständlich, alles andere.
Drei verlorene Jahre
Die Medaillen wirken in seinem Lebenslauf wie einsame Höhepunkte zwischen vielen und teilweise langen Tiefs der unterschiedlichsten Schattierungen. Sein einstiger Mitstreiter Silvan Dillier sagt es am deutlichsten: «Eigentlich ist es erstaunlich, dass er immer noch Velo fährt.»
Vor zehn Jahren sind die beiden die grössten Talente des Schweizer Radsports. Bahn-Nationaltrainer Daniel Gisiger kann sie überzeugen, dass seine Disziplin ihnen und ihrer Entwicklung guttäte. Weil sie bald Erfolge feiern, folgen ihnen die kommenden Jahrgänge. Gisiger nennt Dillier und Imhof bis heute als Wegbereiter des Schweizer Bahnerfolgs.
Für die Saison 2010 erhalten sie vom französischen Team AG2R Angebote fürs Nachwuchsteam. Was wie eine grosse Chance wirkt, ist der Beginn von Imhofs Seuchenjahren. Erst im Vorjahr hat er seine Lehre als Käser abgeschlossen, nun trainiert er praktisch vom einen auf den anderen Tag wie ein Profi. Die Folge: Erschöpfung, Übertraining, die Saison ist gelaufen. 2011 wird nicht besser. Während die Bahnkollegen in der Sportler-RS trainieren, salbt er sein von einem Sturz geschundenes und chronisch entzündetes Knie. Erst eine Operation am Knorpel verschafft Besserung. 2012: Die WM verpatzt er, danach erkrankt er am Pfeifferschen Drüsenfieber, taucht monatelang ab. Er ist lustlos, bezüglich allem. Wenn er sich aufs Velo setzt, ist er danach «drei Tage am Arsch». Erst 2013 kehrt er zurück, gewinnt bald wieder kleinere Rennen und sagt sich: «Irgendein Talent muss doch vorhanden sein.» Die Sixdays in Zürich Ende Jahr verpasst er wie die vorherigen zwei Ausgaben trotzdem, dieses Mal wegen einer Hirnerschütterung.
Vergebliche Hoffnung in IAM
Ansonsten geht es nun aufwärts. Im Sommer 2014 darf er sich bei IAM Cycling als Stagiaire beweisen. Imhof hofft auf einen Vertrag, zumal ihn alle für seine Leistungen loben – Dillier hat den Schritt bei BMC bereits 2013 geschafft. Ende Jahr dann: nichts. Imhof ist 24 und weiter davon entfernt denn je, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Sein Glück ist der Schwiegervater in spe, ein Velofan und Unternehmer. Er erklärt sich zu einem Sponsoring bereit. Imhof meldet sich bei anderen Unternehmen, die er an den Sixdays kennen gelernt hat. Eine Stunde später: die nächste Zusage. Irgendwie schafft er es, sich eine minimale finanzielle Existenz zu sichern.
Dafür steht er im Bahn-Nationalteam sportlich an. Im Vierer scheint die Idealformation gefunden, Stefan Küng, Dillier und die Romands Théry Schir und Frank Pasche. Imhof ist zu inkonstant. An der Heim-EM in Grenchen 2015 lässt sich der Vierer nach Silber feiern, daneben geht Imhofs Bronze im Punktefahren fast unter. Im Jahr darauf ist Olympia, Imhof wird auch als Ersatzfahrer übergangen. Besonders von der welschen Bahn-Fraktion fühlt er sich geschnitten. Das hat wohl auch damit zu tun, dass er sich seit 2014 von Mountainbike-Nationaltrainer Bruno Diethelm betreuen lässt, also nicht nur finanziell, sondern auch sportlich sein eigenes Ding durchzieht.
Bahn-Nationaltrainer Gisiger befürwortet diese Zusammenarbeit, sagt: «Bruno ist ein guter Trainer für schwierige Fälle.» Imhof mag konstanter geworden sein – «ich habe einen guten Motor entwickelt». Trotzdem müssen seine Trainer noch heute bremsend intervenieren. «Er glaubt, er habe Ferien und Erholung nicht nötig», sagt Gisiger. Immerhin höre er mittlerweile aber auf Diethelm und ihn.
Küngs Position übernommen
In Rio enttäuscht der Bahnvierer mit Rang 7, nicht nur weil Küng verletzt fehlt. Imhof erkundigt sich danach bei Gisiger, ob dieser bis Tokio 2020 weitermache – und entscheidet sich nach dessen Zusage, sich ebenfalls für dieses Ziel zu verpflichten. Er wächst nun nach und nach in Küngs Position hinein. Nicht als Teamleader, dafür ist er zu introvertiert. Aber als leistungsmässiger Anführer. «Claudio ist ein dankbarer Fahrer, weil er lang und schnell fahren kann. Sportlich bringt er etwa gleich viel wie Stefan», sagt der Nationaltrainer. Er zieht Imhof nun bei der nachfolgenden Generation als Beispiel heran, wenn es nicht schnell genug vorwärtsgehen kann.
Gerade im Bahnradsport, wo man nicht vorwärtskommt, sondern stets am gleichen Ort seine Runden dreht. Wie Imhof in Oerlikon. Die Prämien der Dienstagabendrennen decken einen Teil seiner Kosten. Diese sind geringer, weil er noch bei den Eltern wohnt. Das soll sich irgendwann ändern, doch im Moment hat er andere Sorgen. Die Verträge mit seinen Einzelsponsoren laufen alle Ende Jahr aus, Imhof versucht, diese bis 2020 und Olympia zu verlängern. Darum wälzt er sich derzeit nachts im Bett, darum dreht er heute auch beim letzten Abendrennen 2018 in Oerlikon seine Runden. «Es ist das, was ich am liebsten mache», sagt er – und verabschiedet sich zum Aufwärmen.
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