Eigenkapital statt Mathematik
Die Banken haben zu stark auf mathematische Modelle vertraut und ihr Eigenkapital zu radikal verkleinert. Das ist ein Grund für die schwerste Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise seit 70 Jahren. Uneinig sind die Experten, wie die internationale Bankenaufsicht verbessert werden kann.
Am Weltfinanzgipfel vom 15. November in Washington haben die 20 grössten Wirtschaftsländer der Welt (G20) schärfere Regeln für den Finanzmarkt gefordert. Diese Forderung wollen sie bis zu ihrem zweiten Treffen vom 2. April 2009 in London präzisieren. Einigkeit herrscht in den Kommentaren von Politikern und Ökonomen nur in einem Punkt: Die international tätigen Banken benötigen in Zukunft mehr Eigenkapital, damit sie Verluste auf ihren Anlagen besser auffangen können. Das ist eine fundamentale Kehrtwende: In der Vergangenheit haben die Institute ihr Eigenkapital in Richtung des gesetzlichen Minimums gesenkt. Was darüber lag, schütteten sie als Kapitalrückzahlungen an die Aktionäre aus. Das erhöhte mathematisch die Eigenkapitalrendite: Je kleiner das Eigenkapital bei gegebenem Gewinn, umso höher fiel die Rendite aus. Davon profitierten nicht nur die Aktionäre, sondern auch die Bankchefs: Ihre Boni bemassen sich an der Eigenkapitalrendite. Aber der Puffer wurde kleiner.Basel II seit Anfang 2008Seit Anfang Jahr sind in der Schweiz die neuen Eigenkapitalvorschriften gemäss Basel II in Kraft. Erarbeitet wurden sie im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht. Das Ziel war, gewisse Mängel von Basel I auszumerzen. Unter der alten Regelung mussten die Banken alle von ihnen gewährten Kredite und andern Aktiven mit 8 Prozent Eigenkapital unterlegen, unabhängig vom Risiko des Schuldners. Das verleitete sie dazu, mehr risikoreiche Kredite zu vergeben, da sie dafür einen höheren Zins verlangen konnten als für sichere Anlagen. Mit Basel II wird dieser Anreiz vermieden: Bei Schuldnern mit höherem Risiko benötigt die Bank mehr Eigenkapital als bei sicheren Schuldnern. Bundesanleihen gelten als sicher; deshalb werden sie mit 0 gewichtet. Der Kredit an eine solide Privatfirma wird beispielsweise mit 75 Prozent gewichtet. Wenn das Risiko höher ist, steigt die Gewichtung vielleicht auf 150 Prozent. Die Gesamtsumme der gewichteten Positionen muss mit 8 Prozent Eigenkapital abgesichert werden. Bei den meisten Schweizer Banken wird das Kreditrisiko gemäss Standardverfahren ermittelt: Es gelten die Bewertungen von internationalen Ratingagenturen. Die Grossbanken CS und UBS verwenden dagegen ihre eigenen Ratings. Basel II ist denn auch der Hauptgrund, weshalb CS und UBS ihre Ratingsysteme in den vergangenen Jahren überarbeitet haben. Das führte vorübergehend zum Streit, weil einige Firmen mit verschlechtertem Rating höhere Zinsen bezahlen mussten. Die Diskussion hat sich zwischenzeitlich gelegt. Sie könnte jetzt aber wieder aufflammen: Wegen der drohenden Rezession dürfte sich das Rating für verschiedene Unternehmen verschlechtern. Hinter dem Konzept der Risikogewichtung steht die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Konkret geht es um die von Carl Friedrich Gauss vor über 100 Jahren entwickelte Glockenkurve oder Normalverteilung. Die Banken gewichten die Kredite nach dem Risiko, mit welchem ein Verlust droht. Bei den meisten ist das Risiko klein. Sie sind in der Mitte der Glockenkurve zu finden. Aussen an der Kurve sind die seltenen, aber existenzgefährdenden Ereignisse zu finden. Keine GlockenkurveIn der jüngeren Vergangenheit ist der Verdacht aufgekommen, dass die Finanzmärkte nicht der gaussschen Glockenkurve folgen. Darauf weist der St. Galler Privatbankier Konrad Hummler in der Zeitschrift «Volkswirtschaft» hin. Er zitiert den Mathematiker Benoit Mandelbrot, der herausgefunden hat, dass sowohl verheerende als auch überaus positive Ereignisse in der Finanzwirtschaft weit häufiger sind, als sie nach den Regeln der Normalverteilung sein sollten. «Die Häufung der Finanzmarktkrisen (1987, 1991, 1998, 2001–2003, 2007–200?) weist in diese Richtung», schreibt Hummler. Wenn die Banken angenommen haben, ein sehr negatives Ereignis trete mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 1 Prozent auf, während die Wahrscheinlichkeit in Tat und Wahrheit 2 oder 3 Prozent beträgt, kann das verhängnisvoll sein.Im Einklang mit andern Experten wie dem Münchner Ökonomen Hans-Werner Sinn fordert Hummler deshalb höhere Eigenmittel als das von Basel II geforderte Minimum. Die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) hat schon vor der Einführung von Basel II ähnliche Überlegungen gemacht. Mit ihrem «Swiss Finish» verlangte sie von den Grossbanken von Anfang an 20 Prozent mehr Eigenmittel als das Minimum gemäss Basel II. Die Finanzmarktkrise hat nun aber gezeigt, dass dies nicht genügt. Als Konsequenz müssen die risikogewichteten Eigenmittel von CS und UBS künftig 150 bis 200 Prozent des Minimums betragen. In guten Zeiten sollen sie bei 200 Prozent liegen, in schlechten Zeiten dürfen sie bis auf 150 abgebaut werden. Wenn diese untere Grenze erreicht wird, müssen sie Massnahmen zur Wiederaufstockung ergreifen. Die Banken haben bis ins Jahr 2013 Zeit, um die obere Grenze zu erreichen. Als zweite Massnahme hat die EBK eine maximale Verschuldungsquote (Leverage Ratio) eingeführt. Das Kernkapital der Banken muss auf Konzernebene mindestens 3 Prozent der Bilanzsumme betragen und bei Einzelinstituten mindestens 4 Prozent. Das Kernkapital (Tier 1)besteht aus dem Aktienkapital und den Gewinnreserven. Dazu kommt das Ergänzungskapital (Tier 2). Es besteht aus den stillen Reserven, nicht realisiertem Gewinn auf Wertpapieren sowie nachrangigen Anleihen.Ein grobes InstrumentDie maximale Verschuldungsgrenze (Leverage Ratio) als Prozentsatz der Bilanzsumme ist ein grobes Instrument. Dabei wird auf eine Risikogewichtung verzichtet. Die Finanzmarktkrise hat nämlich gezeigt, dass neben dem Verlustrisiko auch ein Liquiditätsproblem besteht: Die auf amerikanischen Billighypotheken beruhenden Wertpapiere sind nicht für alle Zeiten wertlos, aber nicht handelbar.Noch unbeantwortet ist die Frage, wie die internationale Bankenaufsicht verbessert werden kann. Der Basler Ausschuss gibt heute grundsätzlich nur Empfehlungen ab. Diese müssen ins nationale Recht überführt werden, damit sie angewendet werden können. Eine global tätige Bankenaufsicht wird von den USA auch künftig nicht akzeptiert. Sogar eine EU-weite Regulierungsbehörde ist in weiter Ferne. Barry Eichengreen von der Universität California in Berkley schlägt eine Weltfinanzorganisation (WFO) vor – analog zur Welthandelsorganisation (WTO). Diese könnte nur einstimmige Beschlüsse fassen. Sie könnte Richtlinien erlassen für ihre Mitgliedländer, wie sie ihre Bankenaufsicht zu regeln haben, wie Eichengreen kürzlich in der «Finanz und Wirtschaft» schrieb. Infrage käme auch ein Verstärkung der Kompetenzen des Internationalen Währungsfonds.Boot nicht überladenDaniel Sigrist von der EBK warnt allerdings davor, das Boot zu überladen. Sonst könnte ihm der Untergang drohen wie dem schwedischen Kriegsschiff «Vasa»: Es ging auf der Jungfernfahrt unter, weil es zu viele Kanonen an Bord hatte.Literatur Daniel K. Tarullo, Banking on Basel, Peterson Institute for International Economics, Washington 2008, ISBN 978-0-88132-423-5, 34.90.Die Volkswirtschaft, Magazin für Wirtschaftspolitik, Nr. 12, 2008, Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), 15.90. >
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