Shopping als EntdeckungsreiseDie Wiederentdeckung einer fast verlorenen Freude
Beinahe hat man vergessen, wie viel Spass Einkaufen einmal gemacht hat. Auf dem Chatuchak-Markt in Bangkok erinnert man sich wieder daran.

Man muss schon über einen gefestigten Charakter verfügen, um einen Besuch auf dem Chatuchak-Markt zu überstehen. Sonst kommt man mit einer Voliere nach Hause, einem Samurai-Schwert, einer vergoldeten Klobürste, zwei Pfund Limetten und einem lebensgrossen Bronzepferd.
Das ist schnell passiert, wenn man eigentlich nur hinsehen wollte, um ein paar Teller und Tassen mit diesen hübschen chinesischen Motiven für den neuen Hausstand in Bangkok zu kaufen. Es kann sein, dass man die nicht findet, obwohl man weiss, dass es sie dort gibt, denn der Chatuchak-Markt (Tschatutschack gesprochen) ist etwa so gross wie ein Dorf und so übersichtlich wie Hogwarts.
Eine Dogge – oder lieber ein Mini-Ferkel?
Es gibt Faltpläne zum Mitnehmen am Eingang, aber die machen die Sache nicht besser, weil sie durch die Vogelperspektive eine Ordnung vorgaukeln, die sich auf dem Boden nicht finden lässt. Irgendwann, wenn es Mittag wird und etwa 32 Grad warm, verliert man sowieso die Konzentration und fragt sich, ob man diese blauschwarz schimmernde französische Bulldogge nicht doch mitnehmen und aus ihrem Käfig erlösen sollte, der nur etwa fünf Quadratzentimeter grösser ist als das Tier. Man fragt sich also, ob man ein Doggenbesitzer werden sollte oder doch eher einen Koi-Karpfen haben möchte, mit dem müsste man immerhin nicht mit Plastiktütchen rausgehen, im zubetonierten Bangkok. Oder eines dieser süssen Mini-Ferkel? Hatte George Clooney nicht so eines als Haustier?

Nun wäre es ein billiger Effekt, die Eindrücke eines asiatischen Marktes an einem Samstag bei über 30 Grad im Februar mit denen der Einkaufstristesse in einem Deutschland zu vergleichen, das nicht nur im Winter feststeckt, sondern auch in einem Lockdown, der sich so ewig hinzuziehen scheint wie der Sommer in Bangkok.
Es wird dabei allerdings etwas sichtbar, was schon vor der Pandemie das unser Einkaufsverhalten geprägt hat: die Probleme des Einzelhandels in den Grossstädten. Die Mieten an Toplage in den Städten sind hoch und steigen. Gleichzeitig sinken die Umsätze, weil immer mehr Kunden sich «nur mal umsehen», um dann günstiger und bequemer im Internet zu bestellen. Wobei man auf Dauer natürlich mehr ruiniert als die einzelnen Läden.
Es geht nicht in erster Linie um den Erwerb von Waren, sondern auch um geistige Anregung und das Studium fremder Mentalität.
Und nun ist seit Mitte Dezember ohnehin alles zu. Die deutsche «Wirtschaftswoche» verkündete im Januar 2021 jedenfalls endgültig das «Ende der Innenstadt, wie wir sie kannten».
Dabei geht es beim Einkaufen, zumal an Orten, die man nicht kennt, ja nicht in erster Linie um den Erwerb von Waren, sondern auch um geistige Anregung und das Studium fremder und vertrauter Mentalität. Man fragt sich, wie das dazugehörige Leben aussehen würde, das man führen müsste, um beispielsweise ein lebensgrosses Bronzepferd anzuschaffen. Wie gross wäre der Garten oder die Eingangshalle, um es so platzieren zu können, dass es nur so in der Ecke steht, ganz beiläufig. Hier im Laden steht es eng an eng mit lauter anderen riesigen Bronzefiguren. Man wusste vorher nicht, dass es einen Markt dafür gibt. Der Geist also, wenn man schon nicht kaufen kann, weil man den Garten oder die Eingangshalle nicht hat, wird auf jeden Fall bereichert, zumindest mit Fantasie.
Es gibt eine Ecke mit Tieren auf dem Chatuchak-Markt, eine Ecke mit Schmuck, eine für Kissen und eine für Hüte, eine für Obst und eine für Möbel. Es gibt vor allem auch Ecken für Dinge, von denn man nicht wusste, dass sie Ecken brauchen: Vintage-Holztüren mit angelaufenen Beschlägen beispielsweise. Er ist einer der grössten Märkte Asiens, erstreckt sich neben vielen Freiluftständen auch über mehrere Shopping-Malls, die ihre besten Zeiten hinter sich gelassen haben, in denen man sich aber kurz abkühlen kann. Denn die Klimaanlagen funktionieren noch und laufen auf Hochtouren. Nach kurzer Zeit wird einem kalt.
Und wie es riecht auf dem Markt!
Man kann sich auch draussen abkühlen, bei einem Saftstand, wo die Verkäufer frische Melone oder Mango mit Eis in einen Mixer werfen, sehr belebend, wenn man die Frucht durch den Strohhalm zieht, bis einem die linke Gehirnhälfte einzufrieren scheint. Dann geht es weiter, nicht noch mal zu den Tieren, denn ein zweites Mal kommt man nicht heil vorbei an der Dogge, die eindeutig von sich aus Blickkontakt aufgenommen hatte, und man kann ja auch nicht den WWF anrufen, wegen der Haltungsbedingungen. Also gleich in die andere Richtung, wo das Geschirr vermutet wird

Loszugehen, um etwas wollen, das man nicht findet, und dabei Dinge zu entdecken, die man nicht kannte, ist eine schöne Form, den Erfahrungsschatz zu erweitern. Besser kann man seine Zeit kaum verbringen, denn im Gegensatz zum Buchlesen bewegt man sich, im Vergleich zum Museumsbesuch darf man anfassen und sogar schnuppern.
Und wie es riecht auf dem Markt! Nach allem und jedem, nicht nur gut, aber doch häufig sehr verlockend. Manchmal auch schlicht unbekannt. Das ist keine kleine Sache, das stellt man nach kurzer Zeit fest, weil es als Erfahrung aus dem Alltag fast verschwunden ist. In der Schweiz und grossen Teilen der Welt könnten die meisten Konsumenten mittlerweile wohl die verschiedenen Schachtelgrössen einer «Amazon»-Verpackung am Geruch auseinanderhalten. Aber ein Teeladen auf dem Markt? Ein Gewürzstand? Lange her. Zumal die Bestlagen in Innenstädten weltweit ja schon länger aufgeteilt zu sein scheinen, unter den immer gleichen Anbietern.
Echte Birkenstock-Sandalen kosten in Bangkok etwa das Doppelte.
Es war auch ohne Corona-Pandemie schon so, dass man den Einkauf von einer Selbstüberwältigung zu einer Selbstvergewisserung reduziert hatte. Egal ob man an einem grossen Flughafen oder in einer Shopping-Mall in Jakarta oder Manhattan an den Auslagen vorbeischlenderte: überall das Gleiche, wenn nicht dasselbe. Handtaschen von Bottega Veneta, Computer von Apple, Klamotten von Zara und Kaffee von Starbucks. Die Gewissheit, dass der eigene Lifestyle, der als Franchise die Welt erobert hat, der richtige oder zumindest der konsensfähige sein müsste. Auf diese Weise entstehen immer mehr physische Filterblasen, die man dann eben auch eins zu eins ins Online-Shopping übertragen kann. Logischerweise stieg der Umsatz der Online-Händler im vergangenen Jahrzehnt immer weiter, im Pandemie-Jahr noch einmal um 23,4 Prozent.
Dabei geht es beim echten Kaufen in der Aussenwelt manchmal darum, zu zeigen, was man sich leisten kann. Den edlen Laptop, die Lederhandtasche, die funkelnde Uhr. Als Fake bekommt man die auf dem Chatuchak-Markt, in echt stehen auch in Bangkok reichlich Malls bereit, in denen man Luxus für jede Preislage erwerben kann. Allerdings müssen Zugezogene sich an eine Eigenheit gewöhnen, denn für Ortsansässige besteht der leistbare Luxus in den Malls manchmal aus Dingen, die in Europa eher nicht viel hermachen würden. Echte Birkenstock-Sandalen beispielsweise kosten in Bangkok etwa das Doppelte. Eine etwas schickere Kaffeemaschine von Moccamaster, in gentrifizierten Milieus von Zürich und Berlin auch schon teuer, kostet hier nicht 200, sondern gleich 600 Franken.
Es dauert ein paar Tage, bis man versteht, warum viele sogenannte Expats so seltsam angezogen sind: Sie sehen es einfach nicht ein. Stehen in der Mall, betrachten die 60-Franken-Finken und entscheiden sich dann für den billigen Abklatsch, der dann aber auch aussieht, als sei man als Kind in einen Kessel mit Kik-Klamotten gefallen.

Dann doch lieber auf den Chatuchak-Markt, denn da gibt es neben lustigem Trash auch Bastlatschen oder Leinenkleider in farbenfrohen Mustern für umgerechnet fünf bis zwanzig Franken, aber von Leuten im Land entworfen und sonst schwer zu bekommen. Mit denen kann man nicht nur andere überraschen, sondern auch sich selbst. So verirrt man sich also immer weiter, irgendwann weiss man gar nicht mehr, was man eigentlich wollte. Und wieso hat man das Poster mit der vergessenen thailändischen Sängerin aus den Vierzigerjahren nun gleich mitgenommen, bei dem Strohhut aber gedacht, man kommt später wieder her. Wo gab es den Hut noch mal?
Auch der Chatuchak-Markt musste im vergangenen Jahr angeblich einen Umsatzrückgang von 80 bis 90 Prozent verkraften, da wegen der pandemiebedingten Einreisebeschränkungen kaum jemand ins Land kommt. Es ist nicht ganz klar, wie das gezählt wird, denn die wenigsten Menschen hier arbeiten mit Kassenregistratur. Was man allerdings erkennen kann, wenn man länger nach ein paar Tellern und Tassen sucht: dass auch hier viele Läden geschlossen sind.
Allerdings halten etwa die Hälfte der Händler die Moral hoch, die Garküchen, für die es auch einen Extrabereich gibt, sind in Betrieb und werden auch besucht. Der Laden, in dem man sich neue Gartenmöbel oder das Bronzepferd per Fedex oder DHL in die Schweiz schicken lassen kann, hat ebenfalls offen. Ein Bronzepferd über den Indischen Ozean zu verschicken ist derzeit leichter, als nach Thailand zu reisen, wo man erst mal 14 Tage in Quarantäne muss und sich dann wöchentlich wechselnden Reisebedingungen ausgesetzt sieht. Und es dürfte auch leichter sein, als ein paar hübsch bemalte chinesische Tassen und Teller zu finden.
Dafür hängt in der Küche nun das Poster einer thailändischen Sängerin, deren Namen niemand mehr kennt.
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Ich war vor 4 Jahre auf dem Markt. Extrem beeindrucken was hier alles angeboten wird. Man sagt ja, was du hier nicht findest, existiert nicht :-) Es gibt sogar Karten vom Gelände, weil es so riesig ist. Ich bin einige Stunden herumgeirrt, habe mich verpflegt, massieren lassen (nach gefühlt 1 Mio. Schritten war das nötig) und auch eingekauft. Danach war ich aber fix und fertig auch weil es gegen Mittag fast unerträglich heiss wurde unter den Plachen und Dächern des Markts. Gleich neben dem Markt ist ein kleiner Park mit vielen Bäumen und rasen zum erholen. Ich kann es nur allen empfehlen, die noch nie einen solch grossen Markt gesehen haben!