ZoomDie Welt durch die Windschutzscheibe
Ein altes Ehepaar, Prostituierte, brennende Mülleimer: In den 1980er-Jahren dokumentierte Joseph Rodriguez als Taxifahrer in New York den Zustand der Gesellschaft.

Die West Houston Street in New York im Jahr 1985: Es wird langsam hell, eine Frau blickt über ihre Schulter zurück. Die meisten schlafen noch, aber der After-After-Hour Club hat gerade seine Türen geöffnet. Hier kommt man hin, wenn die grossen BDSM-Clubs des Meatpacking District schliessen und man noch nicht genug hat. Fotografiert wird die Szene durch die Windschutzscheibe eines Taxis, im Rückspiegel ein weiteres Taxi, am Armaturenbrett ein Ausweis, darauf der Name Joseph Rodriguez.

Der 34-Jährige ist Student am International Center of Photography in New York, das Geld dafür verdient er als Taxifahrer. Bei ihm steigen Putzfrauen ein, Prostituierte, ein älteres Ehepaar, das ihm das Geheimnis seiner langen Ehe verrät («love and compromise») oder ein Mann, der während der Fahrt seine Lederkluft auszieht und das Auto als unauffälliger Wallstreet-Banker verlässt.


«Mein Taxi war wie ein Beichtstuhl in der katholischen Kirche», sagt Rodriguez, für den diese Bilder den Beginn seiner Karriere als Dokumentarfotograf markieren. Schon damals holte er Menschen und Dinge vor die Kamera, die oft übersehen werden: Prostituierte, Homosexuelle, Frauen mit Bündeln unter dem Arm, brennende Mülleimer.


«In den Jahren zwischen 1978 und 1987», schreibt der Schriftsteller Richard Price in seinem Begleittext, «fühlte es sich an, als würden der Stadt jeden Tag von neuem die Zähne eingeschlagen.» Die Aids-Krise, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Drogen: All das wird auf Rodriguez’ Bildern sichtbar. Als fast durchsichtiger Beobachter erhält er in den zehn Jahren als Taxifahrer einen einmaligen Einblick in die Gesellschaft. «Das Taxifahren hat mich zum Humanisten gemacht», sagt er heute. Beim Blättern durch den Band mischt sich neben all dem grossstädtischen Schrecken aber auch etwas Wehmut. Denn heutzutage würde ein Taxifahrer all die Geschichten wohl gar nicht mehr erfahren. Wann haben Sie das letzte Mal im Taxi mit dem Fahrer geredet, anstatt auf Ihr Handy zu schauen?



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