Die virtuelle Offensive
Der FC St. Gallen bezahlt Gamer, damit diese im Namen des Vereins das Videospiel «Fifa» spielen. Warum bloss?
Sandro Poschingers Mutter blickt bis heute nicht ganz durch. Mit dem Leben ihres Sohnes ist sie freilich vertraut. Aber diese virtuelle Welt, in der er sich so oft tummelt, ist ihr noch immer fremd. Sie weiss nur, dass ihr Sohn in diesem einen Videospiel ziemlich gut ist. «Fifa» heisst es. Eine Fussballsimulation. Darin steuert der 17-Jährige Cristiano Ronaldo, Lionel Messi oder Robert Lewandowski per Controller so flink, dass er sich mittlerweile E-Sportler nennen kann und ihm das Geld einbringt. Viel ist es nicht, aber immerhin: Sandro Poschinger wird fürs Gamen entlöhnt. Und das von einem Fussballclub. Ein Novum in der Schweiz.
Angefangen hat alles mit 14 Jahren, als er in Zürich sein erstes «Fifa»-Turnier bestritt. Ein überschaubarer Event, bei dem sich die noch überschaubare Szene mass. Sein Ziel war es damals, die Gruppenphase zu überstehen. Heute ist alles andere als die Finalteilnahme eine Enttäuschung. «Sofern ich in der Schweiz spiele», präzisiert Poschinger. Nimmt er an internationalen Turnieren teil, dann sind andere die Favoriten. Die E-Sportler von Paris Saint-Germain, Manchester City oder Schalke 04 zum Beispiel.
Der Trend, dass Fussballclubs Gamer unter Vertrag nehmen, damit diese im Namen des Vereins in Videospielen reüssieren, ist neu. «Vor zwei Jahren gab es noch keinen Club, der sich das vorstellen konnte. Heute sind es schon über 30 Teams, die eine E-Sport-Abteilung haben», sagt er. Einige davon trafen sich vor kurzem in Gelsenkirchen, wo Poschinger Vierter wurde. Die Mutter schaute die Spiele ihres Sohnes zu Hause am Computer – im E-Sport ist es Usus, dass man die Spiele per Livestream mitverfolgen kann.
Bruno Bardelas (24) hingegen musste im Ruhrpott mit der Rolle des Zuschauers vorliebnehmen. Er ist der zweite E-Sportler des FC St. Gallen. Die Ostschweizer durften nur einen Spieler melden. Das Team entschied sich für Poschinger, den weniger Erfahrenen. Als Poschinger vor drei Jahren seine ersten Turniere bestritt, galt Bardelas bereits als Routinier. Seit Jahren gehört er zur «Fifa»-Elite im Land. «Ich schaute schon damals zu ihm hoch», erzählt Poschinger.
Via Gamen die Jugendlichen anlocken
Zusammen bilden die beiden nun die wohl umstrittenste Sparte des FC St. Gallen: das E-Sport-Team. Entstanden ist es letzten Dezember als Folge der neu formulierten Digitalisierungsstrategie des Vereins. Am Ursprung stand die Frage, wie sich die Ostschweizer besser im Onlinemarketing positionieren könnten. «Wir realisierten, dass wir nicht um den E-Sport herumkommen», erzählt Pascal Signer, Leiter Informatik und E-Sport des FC St. Gallen. Über eine Viertelmilliarde Menschen kamen im vergangenen Jahr mit der professionellen Gamingszene in Kontakt. Signer spricht von ungeheurem Potenzial, das in diesem Markt stecke. Ein Markt, der vor allem jene Zielgruppe anspreche, die immer schwieriger zu erreichen sei: Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 22 Jahren.
Dass Videospiele in der Schweiz Anklang finden, ist kein Geheimnis: 80 Prozent der Jugendlichen kommen mit ihnen in Kontakt. «Fifa» ist das meistverkaufte Game im Land. Nur, was für einen Mehrwert generiert es, wenn ein Fussballverein solche E-Sportler engagiert? «Wir erhoffen uns die Erschliessung neuer Sponsorenkreise und wollen mit dem Markt mitwachsen», erklärt Signer. Wie sich das E-Sport-Projekt entwickle, sei schwer abschätzbar. «Der Markt aber wächst rasant.»
E-Sport: 493 Millionen Umsatz im Jahr
Noch ist «Fifa» ein vergleichsweise kleiner Fisch im E-Sport-Teich. Strategiespiele wie «League of Legends» und Ego-Shooter wie «Counterstrike» sind es, die die Fans zu Tausenden in reale Arenen und millionenfach vor die Bildschirme locken. Diese Titel spielten den Grossteil des letztjährigen Umsatzes ein. 493 Millionen US-Dollar waren es aus Werbung, Sponsoring und Rechteverkauf. Wer die besagten Videospiele spielt und Erfolg hat, kann damit längst seinen Unterhalt finanzieren. Für «Fifa»-Spieler gilt das noch nicht. «Ausser vielleicht für jene von Paris Saint-Germain», sagt Poschinger. In der Szene munkelt man, dass es die Franzosen mit ihren Löhnen möglich machen, sich vollberuflich der Fussballsimulation zu widmen.
Poschinger und Bardelas sind im internationalen Vergleich höchstens Halbprofis. Wenn die beiden nicht gerade auf virtueller Torjagd sind, gehen sie ihren anderen Berufen nach. Poschinger absolviert eine kaufmännische Lehre, Bardelas arbeitet im Detailhandel. «Wir führen ein normales Leben», sagt Poschinger. Er sagt das so, weil er weiss, dass Videospiele in der Schweiz noch immer negative Konnotationen hervorrufen. «Wir sind keine Freaks», schiebt er dezidiert nach. Kollege Bardelas interveniert: «Okay, wenn den ganzen Tag die Sonne scheint und ich drinnen game, dann fühle ich mich schon manchmal wie ein Freak.»
E-Sportler zu sein, ist vor allem eines: zeitintensiv. Ein bis zwei Stunden trainieren Poschinger und Bardelas täglich. Vor Turnieren können es mehr werden. Dazu kommen 40 Spiele, die die beiden jedes Wochenende im Minimum absolvieren. Zeitaufwand: 14 Stunden. Zeitraubend ist auch die Analyse. Dafür zuständig ist Thomas Temperli. Der 28-Jährige coacht das St. Galler E-Sport-Team und seziert täglich während ein bis zwei Stunden die virtuellen Matchs seiner Schützlinge.
Dass sich die Leute schwer vorstellen können, warum Poschinger und Bardelas noch einen Trainer brauchen, kann Temperli nachvollziehen. «Nur ist das Training mittlerweile so intensiv, dass die Spieler jemanden benötigen, der den analytischen Part übernimmt.» Temperli, der sich seit 13 Jahren mit der Fussballsimulation beschäftigt, ist der ideale Mann dafür. Früher spielte er selber und war Dominator der Szene, heute ist er nur noch Coach. Und redet auch so. Er spricht von unnötigen Ballverlusten, die unterbunden werden müssen. Von ersten Bällen, die sauber gespielt werden sollten. Oder von Effizienz, die er sich vor dem Tor wünsche.
Kommt eine virtuelle Super League?
«Wir machen das nicht zum Spass», sagt Temperli und macht klar, als was er Poschingers und Bardelas Tun deklariert: als Leistungssport. Die Diskussion darüber, ob professionelles Gamen ein Sport sei, lässt er nicht zu. Zumal der E-Sport in Ländern wie China, Südkorea oder den USA schon offiziell als Sportart anerkannt werde. In St. Gallen hat man die Vision, dass die E-Sport-Abteilung für die Clubanhänger dereinst einen ebenso hohen Stellenwert hat. Dass sich die Fans so ausgelassen über virtuelle Erfolge erfreuen, wie wenn auf dem Rasen des Kybunparks drei Punkte geholt würden. Dafür bedarf es aber eines geeigneten Wettbewerbformats. Zuschauerfreundlich sind die heutigen Turniere mit ihren komplizierten Qualifikationsverfahren noch nicht. Für Signer gibt es nur eine Lösung: «Eine virtuelle Super League.» Eine parallele Super League?
Er sei überzeugt, dass sie bald Realität werde, in Holland existiere heute schon eine solche Parallelliga. Jedoch erachten längst nicht alle Super-League-Vereine den Einstieg in den E-Sport als notwendig. Das Gros der Vereine will erst einmal beobachten, wie sich die Szene entwickelt. Einzig Luzern und Lausanne ziehen nun nach. Für Daniel Frank, PR-Manager des FC Luzern, ist es denkbar, dass ein Super-League-Spieltag schon bald zwei Duelle beinhalten könnte. «Eines auf dem Rasen und eines in der virtuellen Welt.» Sollte die virtuelle Super League dereinst tatsächlich lanciert werden, hätte sie im Vergleich zur realen Liga einen entscheidenden Vorteil: Sie wäre spannender.
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