AusflugstippDie Spaziergängerin von Bümpliz
Die Stadt Bern hat alle Kunstwerke im öffentlichen Raum inventarisiert und Stadtspaziergänge konzipiert. Auf nach Bümpliz!

«Er lässt sich sehen, aber sieht auch, wenngleich mit leichter Gleichgültigkeit», so beschrieb Georg Simmel, ein deutscher Philosoph und Soziologe den «Flaneur», der durch Städte streift. Sein weibliches Pendant «la Passante» tritt in den Werken von Marcel Proust auf, und zwar in Form emanzipierter Frauen, die sich für diese Zeit ungewöhnlich selbstbestimmt die öffentliche Sphäre aneigneten.
Heute soll ganz ohne Gleichgültigkeit und subversive Absicht flaniert werden, um die von der Stadt Bern in einem aufwendigen Projekt inventarisierten Kunstwerke im öffentlichen Raum zu entdecken. Ein kleiner Führer mit Texten des Autors und Kunstkritikers Konrad Tobler dient als Leitfaden, um die Werke zu finden und etwas über sie zu erfahren. In fünf bebilderten Büchlein, die man online konsultieren oder in Papierform beim Empfang im Berner Stadtregierungssitz Erlacherhof abholen kann, werden die Gebiete «Altstadt-Rosengarten-Zentrum Paul Klee», «Kirchenfeld-Kornhausbrücke», «Länggasse», «Lorraine-Obere Innenstadt» und «Bümpliz-Bethlehem» zusammengefasst.
Kunst am Schulhaus
Bümpliz soll es bei unserem Selbstversuch sein, denn hier vermutet man nicht unbedingt die höchste Dichte an Kunst. «Ich habe gestaunt, wie viele Sachen es dort gibt», kontert Konrad Tobler dieses Vorurteil. Die von Walter «Pips» Vögeli in den Sechzigerjahren gestaltete Wand im Schulhaus Schwabgut wirke auf ihn sehr frisch, so der Autor, der Pips noch persönlich kannte.
Der 2009 im Alter von achtzig Jahren verstorbene Künstler goss sogenannte Polymodule, Baukasten aus quadratischen und rechteckigen Positiv-negativ-Elementen. Seine von der Pop Art geprägte Wandarbeit (1967–69) widerspiegelt den Zeitgeist, die Sehnsucht nach einem futuristischen Leben, war doch die Weltraumforschung gerade in aller Munde.
Modern, das waren auch die Siedlungen in Bümpliz, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren entstanden. Das Tscharnergut, von seinen Bewohnern liebevoll «Tscharni» genannt, gilt heute als schützenswert. Wir starten unsere Tour aus dem Tram Nummer 7 steigend mit ganz viel Sicht auf Beton, einem Werkstoff, der diesem Quartier bis heute etwas Grossstädtisches verleiht. «Kampf den Knästen» hat jemand an einen klassisch modernen Treppenübergang gesprayt. Das ist aber auch das einzig Anarchistische hier.
Auf zum Friedhof
Eine Frau mit pechschwarz gefärbtem Haar und einem Mops, der mit seinem schwarzen, glänzenden Fell sein Frauchen zu konkurrenzieren scheint, verrät uns, wo es zum Friedhof geht, da das Kartenlesen – es gibt eine aufklappbare Karte innerhalb des Führers – nicht allen in die Wiege gelegt wurde. Bei unserer Ankunft hüpfen zwei Elstern zwischen den Grabsteinen hervor. Ist das jetzt nur unheimlich oder ein gutes Omen? In der nordischen Mythologie fungiert der schwarz-weisse Vogel als Bote der Todesgöttin Hel, während das Tier in Asien als Glücksbringer gilt, wie Google verrät.

Doch wir sind nicht auf Vogelschau, sondern wollen die Abdankungshalle bestaunen. «Der schlichte Bau aus Beton mit seinem von Holz geprägten Eingang wirkt schon von aussen wie ein Ort der Besinnung», schreibt Konrad Tobler. Der Künstler Hubert Dechant hat einen konvexen Spiegel an dem Bau angebracht, was den Aussenbereich widerspiegelt, anscheinend mit «Bildverbot und Bilderwunsch» balancierend.
Weiter geht es zu einem Werk des 1942 geborenen Künstlers Walter Kretz. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsgrab von 1975. Das Monument besteht aus einem grossen Y, das eine Kugel umschliesst. Man kann darin eine Figur erkennen, die die Arme gegen den Himmel streckt.

Uns gefällt vor allem, was aus dem Kunstwerk durch die Interventionen der Angehörigen geworden ist. Die mit Moos bewachsene Skulptur steht nicht allein da: Sie wird regelrecht eingenommen von im Gras liegenden, schlafenden Engeln, von Laternen, Sternen und Blumen, was ein poetisch zauberhaftes Ganzes ergibt.
Auch ein Künstler von nationaler Bedeutung, der erst im Juni dieses Jahres 86-jährig verstorben ist, hat diesen Friedhof geprägt: Schang Hutter. Eine mit feuerrotem Efeu bewachsene Säulenordnung beherbergt eine Skulptur, eine Mutter mit Kind. Die Pergola, die man durchläuft, dient als Urnennischenwand, wo bei unserem Besuch vereinzelt Leute ihren Verstorbenen gedenken.

Flanieren wie in Paris
Zwei noch lebende Künstlerinnen gehören zu den gar spärlich vertretenen Frauen auf diesem Spaziergang. Von der 1982 geborenen Julia Steiner, die man gemeinhin mit grossformatigen Tuschezeichnungen in Verbindung bringt, steht vor dem Bankgebäude die Installation «Im Licht» (2009), bestehend aus einem Spiegelobjekt, das einfallendes Licht auf das Gebäude reflektiert. Bei Dunkelheit erscheine angeblich ein roter Punkt auf dem Schriftzug.
Die 1962 geborene Véronique Zussau hat mit einer Arbeit von 1992 mit über die Fussgängerzone verteilten Elementen im Zentrum von Bümpliz Akzente gesetzt. Es ist ein für die Künstlerin typisch unauffälliges, subtiles Werk, das auf seine Umgebung reagiert. Rasch könnte man die Elemente, die in frei stehenden Wasserbecken kulminieren, übersehen. Doch mit diesem Kunstführer in der Hand wird die eigene Stadt plötzlich zur Entdeckung. Mit gesteigerter Aufmerksamkeit flaniert man von Monument zu Monument, wie man das gemeinhin eher in Paris oder Berlin als hochmotivierte Touristin auf Reisen tut.
Die Kunstspaziergänge samt Kartenmaterial sind auf der Website der Stadt Bern zu finden. Anfahrt zum Rundgang in Bümpliz mit dem Tram 7 (Endstation Bümpliz). Die rund 2,5-stündige Tour endet bei der Station Unterführung, wo die Trams der Linien 7 und 8 fahren. Verpflegungstipp: Tibetan Snow Lion Momos, Brünnenstrasse 104.
Dieser Ausflugstipp ist Teil einer Artikelserie, die von dieser Zeitung seit Frühjahr 2020 regelmässig erweitert wird: Alle Tipps in der Übersicht. Wichtig: Wegen der sich laufend ändernden Corona-Bestimmungen können Öffnungszeiten, Fahrpläne und Verfügbarkeiten von unseren Angaben abweichen. Bitte versichern Sie sich, ob unser Tipp aktuell durchführbar ist, wenn Sie Ihren Ausflug planen
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