Heitere Fahne wird 10Die Nachbarin mit der wilden Frisur
Viel Volk und mehr Stabilität: Die Heitere Fahne in Wabern ist zu ihrem runden Geburtstag in Feierlaune. Wovon träumen die Idealisten jetzt noch?

Ob es das Geschenk rechtzeitig zur Geburtstagsparty schafft, ist ungewiss. Im Büro der Heitere Fahne wird beraten. «Mein letzter Stand ist, dass es reichen sollte» – «Ich habe gehört, die Platte habe einen Kratzer» – «Was? Das ist nicht dein Ernst!» Das Kulturlokal, das vor zehn Jahren ins alte Wirtshaus der Gurten-Brauerei in Wabern einzog, schenkt sich ein Album mit Glückwünschen von befreundeten Berner Künstlerinnen und Musikern. Doch wegen eines Lieferengpasses beim Hersteller wartet die Heitere Fahne seit Monaten auf die Tonträger.
In der Gaststube an der Strasse zur Gurtenbahn, die Velofahrer und Fussgängerinnen ins Schnaufen bringt, herrscht an diesem Maimorgen konzentrierte Stimmung. Der Schweizer Berufsverband für soziale Arbeit hat die Räume für eine Tagung gebucht. Die knarzenden Dielen und geschnitzten Verzierungen des denkmalgeschützten Hauses haben eine lange Geschichte zu erzählen. 1870 baute die Gurten-Brauerei ans Restaurant einen Theatersaal an, der Besucherinnen und Besucher heute mit seinen Dimensionen überrascht.

Kleiner Zeitsprung: 2013, als das Gurten-Bier längst nicht mehr in Bern produziert wurde und die Zapfhähne der Beiz versiegt waren, kam eine Theatergruppe mit grossen Träumen und Tatendrang daher. Der Verein Frei_Raum, der das leer stehende Haus auf einem Spaziergang entdeckte, durfte es von den Privatbesitzern mieten und verwandelte die «Braui» in die Heitere Fahne.
Quirlige Festivals
Seither ist in Wabern ein Kultur- und Freizeitprogramm gediehen, das weit ausschlägt zwischen Indie-Nächten und Zirkusromantik, partizipativem Theater und Rollschuhdiscos, Quartier-Tafelrunden und Yogastunden, Folk-Sessions und literarischen Intermezzi. Hinzu kommen Festivals wie das quirlige «Säbeli Bum», das diesen Sommer den Berner Brünnenpark bespielt, oder das «Gugus Gurte» das die Heitere Fahne während der Tage des Gurtenfestivals regelmässig schier platzen lässt.

«Wir wollen offen und vielseitig sein, möglichst zugängliche Sachen machen, aber auch mal ein Experiment wagen», sagt Rahel Bucher, eine der Gründerinnen und Co-Leiterin der Kultur. Gestartet seien sie mit einem «Kulturdienstag», erinnert sich Marie Omlin. Die Schauspielerin betreut das Theater- und Kreativatelier «Crealocker». Dieses ist – wie die gesamte Institution – auf Inklusion, beispielsweise von Menschen mit Behinderungen, ausgerichtet. «Und dann sind wir immer grösser geworden», so Omlin.
Aus dem Hamsterrad
«Viu Freiruum und weni Lohn», singt der Chor der Heitere Fahne im Geburtstagsständchen. Darin klingt an, dass mit dem Wachstum auch schwierige Zeiten anbrachen. 2019 befanden sich die Idealisten im Hamsterrad. Viel Last verteilte sich auf wenige Schultern, klare Funktionen fehlten, das hierarchielose Selbstbild wackelte. Aus der Krise führte sie ein Strukturprozess mit einem Berater der Universität Basel. Sie schufen sechs Bereiche von Kultur bis Küche. Jeder dieser «Planeten» hat Co-Verantwortliche. Eine Geschäftsleitung ist fürs Strategische zuständig.
Die neue Organisation habe sich etabliert und die Arbeitsweise sei gesünder, sagt Rafael Egloff. Der Soziologe koordiniert den «Büro-Planeten». Deutlich für Ruhe gesorgt habe auch, dass die meisten der rund dreissig Angestellten, inklusive Praktikanten und Auszubildende, inzwischen Teilzeit arbeiteten. Weiterhin wirken zudem ehrenamtliche Helferinnen und Helfer mit.
Hang zum Kitsch
Zu tun gibt es genug. Den Publikumsandrang bezeichnen Rahel Bucher und Marie Omlin als «megagut», von einer postpandemischen Zurückhaltung spüren sie nichts. Das persönliche und kreative Klima, das einen schon draussen am Tor und auf der Terrasse mit Farben, Glitzer und Wunderskulpturen umgibt, stösst beim jüngeren wie beim älteren Bern auf Gegenliebe.
Man scheint zwischen den Holztäfern besonders leicht aus dem Alltag zu schlüpfen. Wie eine Nachbarin mit wilder Frisur verströmt das Lokal einen Hauch Punk und Anarchie mit Hang zum Kitsch, ohne dafür sonderlich laut zu werden. Über die Stränge schlagen ist wegen des Lärmschutzes sowieso nur selten erlaubt.

Zuneigung kommt ebenfalls von staatlicher Seite. Ab 2024 gilt die Heitere Fahne als Kulturinstitution von regionaler Bedeutung und erhält bis 2027 einen jährlichen Subventionsbeitrag von 187’500 Franken von Kanton und Stadt Bern sowie der Gemeinde Köniz. Das gebe ihnen mehr Planungssicherheit, sagt Rahel Bucher. Am Kulturangebot wollen sie vorerst nichts ändern, sondern ihre Formate weiterentwickeln, auch mit anderen Bühnen zusammen. Mit dem Strassenstück «Puff! Völlig losgelöst» touren sie im August durch Schweizer Städte, etwa mit Halt am Zürcher Theaterspektakel.
Rumoren im Gebälk
Seine Zukunft sieht das Kollektiv Frei_Raum jedoch in Wabern. Das Quartier wächst und um den neuen Bahnhof entsteht in den nächsten Jahren ein «urbanes Zentrum», wie Rafael Egloff feststellt. Das Gebälk der «Braui» bleibt vom Wandel nicht unberührt: Die Liegenschaft, besonders die verwitterte Terrasse, die seit einem Einbruch von Pfeilern gehalten wird, müsse saniert werden, so Rahel Bucher.
Momentan laufen deshalb Abklärungen der Erbengemeinschaft, ob die Mieter das Gebäude im Baurecht übernehmen könnten. Das heisst, die Heitere Fahne würde das Haus auf Zeit kaufen, ohne das Grundstück. Bis zum allfälligen Eigenheim steht aber noch ein langer juristischer Weg bevor. Da kommt die Gelassenheit gelegen, die Baze der Heitere Fahne auf dem Geburtstagsalbum wünscht: «Äs git no äs Morn.»
Plattentaufe: Do bis Sa, 18. bis 20.5. Mit Lös Gatillos, Clemens Kuratle, Frey & Künzi, Kraake u.a. www.dieheiterefahne.ch
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