Die Hengste der Skythen-Könige
Schon vor 5500 Jahren haben Menschen Pferde gezielt gezüchtet. Besonderen Wert legten sie auf Kraft und Ausdauer – aber auch die Farbe des Fells war wichtig.

Zu Lebzeiten dürften diese Pferde die reinsten Prachtkerle gewesen sein: grösser als die meisten ihrer Artgenossen damals, mit kräftiger Brust und starken Muskeln unter glänzendem Fell. Manche trugen üppigen Goldschmuck und reich verziertes Zaumzeug. Schliesslich sollten die Tiere nicht irgendjemanden ins Grab begleiten, sondern einen angesehenen Herrscher. Er gehörte dem Volk der Skythen an, die als Nomaden während des ersten Jahrtausends vor Christus in der eurasischen Steppe lebten. Starb einer ihrer Herrscher, reisten von weither Vertreter der zweiten Führungsebene mit Grabgeschenken an. Die Skythen waren überaus versierte Reiter und «echte Pferdemenschen», wie man sie heute nennen würde. Da bot es sich als Geschenk für den Verstorbenen an, einem prächtigen Hengst die Axt über den Schädel zu ziehen und ihn in die Grabkammer zu bugsieren, ehe die Totenstarre einsetzte.
Elf Hengste starben auf diese Weise an einem Tag vor 2300 Jahren im Altaigebirge im heutigen Kasachstan. Ihr Schicksal kam ans Licht, nachdem Wissenschaftler im Jahr 2006 das Grab entdeckt hatten. Nun präsentieren 33 Autoren um Ludovic Orlando von der Universität Kopenhagen im Fachmagazin «Science» die Ergebnisse der Genomanalysen der geopferten Hengste – und tragen so dazu bei, die Frühphase des domestizierten Pferdes zu verstehen. Schon damals, in der Zeit vor 5500 bis vor 2300 Jahren, wurden Pferde gezielt auf Merkmale hin gezüchtet, die sie nützlicher für den Menschen machten, lautet eine Schlussfolgerung des wissenschaftlichen Grossprojektes. «Bisher war die Frage: blosse Reproduktion oder gezielte Zucht?», sagt einer der Autoren, der Genetiker Arne Ludwig vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin. Zudem wussten die Menschen damals offenbar bereits um die Risiken einer intensiven Inzucht – und vermieden diese.
Gezielte Zucht
Begonnen hat die Domestizierung des Pferdes vor 5500 Jahren im heutigen Kasachstan. Bald setzte sich der Mensch in den Kopf, ausgerechnet diese leicht zu verschreckenden Fluchttiere zu seinem Helfer in Schlachten und Feldzügen zu machen. Der Pakt zwischen Homo sapiens und Equus caballus sah aber noch weitere Jobs für die Vierbeiner vor wie Feldarbeiter, Beförderer, Fleisch- und Milchlieferant.
Damit die Pferde all diese Aufgaben erfüllen konnten, züchteten die Skythen gezielt Tiere mit breiter Brust, starken Muskeln und festen Knochen in den Vorderbeinen, einem leistungsfähigen Herz-Kreislauf-System und extrem niedrigem Wasserbedarf. Das sollte die Pferde auch in der oft heissen, trockenen Steppe leistungsfähig halten. Da die Reittiere auch als Nahrungsquelle dienten, erhöhten die frühen Züchter ausserdem deren Milchleistung – Stutenmilch galt als i-Tüpfelchen auf dem menschlichen Speiseplan. Ausserdem lässt sich aus den Genomen der Skythen-Pferde ableiten, wie sich das Wesen der Haustiere verändert hat, um ihnen ein Leben an der Seite des oft lauten und tölpelhaften Menschen zu erleichtern: Schon die früh domestizierten Pferde waren offenbar ausgesprochen lernfähig, verträglicher und weniger ängstlich als ihre wilden Verwandten.
Bereits vor drei Jahren hatte Ludovic Orlando mehr als 120 Gene im Erbgut des Hauspferdes identifiziert, die für die gezielte Zucht vor mehr als 2000 Jahren eine Rolle spielten. Aus jenen Erbanlagen, die mit Muskelkraft, Knochenbau und dem Herz-Kreislauf-System zusammenhängen, lässt sich ableiten, dass die Skythen auf verschiedene Spezialisierungen ihrer Pferde aus waren. «Sie hatten zwei getrennte Zuchtlinien», sagt Arne Ludwig, «für Sprinter und für eine hohe Ausdauerleistung.» Ohne Pferde, die mühelos weite Strecken im Steppenklima zurücklegen konnten, hätten die Skythen ihr ausgedehntes Reich kaum organisieren können. Allein um den Informationsfluss im Reich aufrechtzu- erhalten – es erstreckte sich etwa vom heutigen Ungarn bis zur Chinesischen Mauer –, benötigten die Menschen einen funktionierenden 1-PS-Fernverkehr. Die Sprintathleten unter den Pferden hingegen wurden womöglich bei der Jagd eingesetzt; vielleicht auch in Spielen, in denen die Skythen-Herrscher sich gegenseitig ihre Geschicklichkeit im Sattel demonstrierten.
Schon vor Jahrtausenden nämlich diente das Pferd auch dem Vergnügen und einem ästhetischen Anspruch. So nützlich die Tiere früher waren, so sehr repräsentierten sie darüber hinaus den Rang und Reichtum ihrer Besitzer. Mit kaum etwas liess sich der eigene Wohlstand so aussagekräftig zur Schau stellen wie mit einem stattlichen Hengst. Auch auf die Farbe des Felles legten die Skythen grossen Wert, darin bestätigt die aktuelle Studie frühere Untersuchungen. Eine Vielzahl von Fellfarben gehörte ebenfalls zum damaligen Zuchtziel. In den Herden standen Rappen neben hell- und dunkelbraunen, Schecken neben cremefarbenen Pferden. «Entweder spiegeln die Farben eine Modeerscheinung, oder sie hatten eine mythische Bedeutung», sagt Ludwig.
Glücksfall für die Forschung
Ihr recht detailliertes Wissen über die Skythen-Pferde verdanken die Forscher vor allem dem guten Zustand der Erbgutproben. Fest eingeschlossen lagen sie im Permafrostboden. «Dann brauchen wir oft nur 400 Milligramm Knochen für eine Genomanalyse, weil die Proben in der Kälte gut erhalten sind», sagt der Berliner Genetiker. Seiner Arbeit kommt es zudem zugute, dass die elf Hengste alle zur gleichen Zeit lebten und kaum mehr als drei Generationen angehört haben dürften. Es passiert nicht oft, dass Wissenschaftler mehrere gut erhaltene Pferde-DNA-Proben eines so engen Zeitrahmens untersuchen können. Zwei weitere Hengste, die vor 2700 Jahren lebten, wurden ebenfalls in die Studie einbezogen, ebenso wie eine Stute aus der Frühzeit der Domestikation. Sie graste vor 4100 Jahren im heutigen Bezirk Tscheljabinsk in Russland.
Die aktuellen Genomuntersuchungen bestätigen auch eine weitere Besonderheit der frühen Pferdezucht: Erst vor rund 2300 Jahren etablierte sich die bis heute gängige Praxis, in der Zucht nur auf wenige männliche Tiere und damit stark auf Inzucht zu setzen. In der heutigen Pferdezucht (wie bei vielen anderen Nutz- und Haustieren) herrscht das Haremsprinzip: Nur wenige Hengste dürfen Nachkommen zeugen. Dadurch verankern sich erwünschte Merkmale wie eine besondere Schnelligkeit rascher und nachhaltiger in einer Population. Doch auch in der Genetik gilt: Alles hat Vor- und Nachteile. Wo sich positive Eigenschaften gut ausbreiten können, gilt dasselbe auch für negative Charakteristika wie Erbkrankheiten. «Das akzeptieren wir heute bei unseren Haustieren, weil wir gute Tierärzte und Haltungsbedingungen haben», sagt Ludwig.
Inzucht vermieden
Auf beides konnten sich die Skythen noch nicht verlassen. Also steuerten sie schädlichen Erbgutveränderungen offenbar gezielt entgegen. In keiner der untersuchten Proben fanden sich Spuren von Inzucht. «Die Skythen wussten um deren Gefahr und haben sie bewusst vermieden», folgert der Berliner Forscher aus den genetischen Daten.
Damit nimmt das Pferd eine Sonderstellung in den Reigen der Domestizierungsversuche durch den Menschen ein. Anders als es die «Hypothese von den Kosten der Domestikation» besagt, ging bei ihnen die Wandlung zum Haustier nicht von Anfang an auf Kosten der Fitness. Bei Hunden, und auch bei Reis- und Tomatenpflanzen, war dies hingegen der Fall.
Der Umschwung zum Haremsprinzip geschah offenbar vor gut 2000 Jahren. Damit begann eine harte Zeit für die Pferdepopulation. Die zunehmende Inzucht schwächte bereits die genetische Konstitution der Tiere. Doch noch war es ein weiter Weg bis zur heutigen tierärztlichen Rundumversorgung inklusive Impfungen, Stammzelltherapie und Computertomografie. Andererseits – und das ist ja auch keine Kleinigkeit – hat im Laufe der Jahrtausende die Gewohnheit abgenommen, Pferden eine Axt auf den Schädel zu hauen, nur damit sie einem toten Herrscher in dessen Grab Gesellschaft leisten.
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