«Die Aprikosenbäume gibt es»
Die Dänin Inger Christensen ist mit 73 Jahren gestorben. Sie liebte das Spiel mit Formen, das literarische Gespräch über Jahrhunderte und Sprachgrenzen hinweg. Immer wieder wurde sie als Kandidatin für den Nobelpreis gehandelt.
Inger Christensen war in Kopenhagen zu Hause, wo sie seit 1962 als Autorin lebte, aber immer wieder war sie auch hierzulande zu sehen und zu hören. Sie kam gern zu Lesungen in die Schweiz: eine etwas scheue und warmherzige, stets neugierige Person, die mit sanfter Stimme ihre Texte intonierte ? und jedes Mal vergessen liess, dass sie ungemein dichte, zugleich einfache und komplexe Gedichte las.«Alphabet» heisst eines ihrer berühmten Gedichte, es ist inzwischen längst ein Klassiker. Darin spricht sie erst von Aprikosenbäumen («Die Aprikosenbäume gibt es, die Aprikosenbäume gibt es»), kommt dann auf Farne zu sprechen, auf Brombeeren und Brom, auf Wasserstoff ? und gelangt am Ende bis an die Grenzen der Schöpfung. Immer tiefer treibt das Langgedicht, allein durch beharrliches Benennen der Welt und Verknüpfen ihrer Teile, in eine anstrengungslose und beinahe magische Beschwörung existenzieller Grundfragen. Dabei, und das muss beim Lesen gar nicht erkannt werden, wird die Länge der einzelnen Abschnitte durch die Fibonacci-Folge bestimmt, eine mathematische Folge mit der Zahlenreihe 1, 2, 3, 5, 8, 13 usw., in der jedes Glied die Summe der beiden vorangegangenen Glieder darstellt. Texte von grosser LeuchtkraftIn der Verbindung von scheinbar organisch wachsender, farbenkräftiger Bilderwelt und strengem System schuf Inger Christensen faszinierende Gedichte, Texte von grosser Leuchtkraft. So etwa in «Das Schmetterlingstal. Ein Requiem», einem klassischen Sonettenkranz mit vierzehn Sonetten und einem abschliessenden Meistersonett. Darin geht sie zurück in ihre Kindheitstage, sucht Spuren des Verlorenen auf ? und sucht dabei auch sprachliche Spuren, die ihr helfen, sich gegen das Vergängliche und Unabänderliche aufzubäumen. In «det / das» wird Inger Christensens poetische Recherche richtiggehend geräumig, aber nie monumental: Das Langgedicht zählt in der zweisprachigen Ausgabe 460 Seiten; die deutsche Fassung stammt von Hanns Grössel, der sehr viel für die dänische Autorin getan hat. Auch Romane und Essays«Det / das» ist streng komponiert – und leicht zu lesen. Eine Art Schöpfungsbericht, der einen achten Tag kennt. Auf der Zahl acht basieren denn auch die variierten Kombinationen, die den Text strukturieren. Das Langgedicht ist eine Welterforschung, die immer wieder ausgeht vom Naheliegenden, leicht zu Übersehenden. Die Sprache erkundet die Welt, und sie erschafft die Welt, sie macht sie lesbar, indem sie Ordnungen stiftet. Dass sie diese jederzeit wieder in Frage stellen kann, mit Lust und spielerischer Phantasie, sichert dem Text eine quirlige Lebendigkeit: «Ich spreche von den zwischenformen der mitteilung / den zwischenstadien des gedankens / spreche von den zwischenkulturen des gefühls / Warum sollte das nicht die einzige Welt sein.»Inger Christensen ist vor allem als Lyrikerin gefeiert worden. Neben Gedichten hat sie aber auch Romane, Erzählungen, Essays und Hörspiele geschrieben, sogar ein Theaterstück und ein Opernlibretto. Im Roman «Das gemalte Zimmer» greift sie auf die Figuren der legendären Kammer zurück, die Andrea Mantegna (1431–1506) im Palazzo Ducale von Mantua ausmalte, die «Camera degli Sposi». Diese Figuren lässt sie auftreten in einer düsteren Mordgeschichte, die in der Renaissance spielt. Der Roman «Azorno» entfaltet ein turbulentes, aber stets kontrolliertes Spiel mit einigen Frauen und einem rätselhaften Erzähler. Über ihre Arbeit hat sie immer wieder Auskunft gegeben in anregenden Essays, auf Deutsch erschienen in zwei Bänden («Teil des Labyrinths», 1993, und «Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod», 1999) ? es sind auch Berichte darüber, «wie unfassbar und einfach in einem es ist», das Rätsel des Lebens.
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