Der wahre Test für Murat Yakin
Der Trainer lässt sich beim FC Sion auf den unberechenbaren Präsidenten Christian Constantin ein. Die Premiere in Thun missrät gründlich.
Er schüttelt viele Hände, posiert mit Fremden für Selfies und unterhält sich entspannt mit Zuschauern. Dabei hat er auf seinem Platz in der vierten Reihe der Haupttribüne eine besondere Funktion: Er ist der neue Trainer des FC Sion - er, Murat Yakin.
Aber die gute Laune verfliegt, das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Seine Mannschaft verliert in Thun 1:4. Und was sie abliefert, ist eine Zumutung. Yakin taucht danach wortlos ab.
Hinter ihm liegt eine höchst seltsame Premiere. Coachen darf er nicht, weil er gesperrt ist, im Frühjahr hat er - noch bei GC im Amt - den Schiedsrichter beleidigt. Darum muss er auf die Tribüne. Rechts von ihm nimmt Sportchef Barthélémy Constantin Platz, links Alexandre Zen-Ruffinen, der Anwalt des Vereins. Präsident Christian Constantin sitzt ein paar Meter von der Delegation entfernt, kaut nervös an einem Kaffee-Rührstab, er sagt: «Ich will mich auf den Match konzentrieren und brauche meine Ruhe.»
Vier Gegentore in einer Halbzeit
Der neue Trainer, der Präsident, die Entourage - sie alle sind aus dem Wallis angereist in der Hoffnung auf eine Kehrtwende nach drei Niederlagen in Serie. Yakin setzt auf eine stabile Defensive, er ordnet an, dass die Dreier-Abwehr bei Bedarf zu einer Fünfer-Kette aufgestockt wird. Er macht eifrig Notizen, zur Pause steht es noch 0:0, alles okay.
Die eifrigeren, willigeren Thuner aber bestrafen die Walliser in der zweiten Halbzeit: Sutter mit dem 1:0 nach 52 Minuten, Spielmann mit dem 2:0 fünf Minuten später. Gewiss, es lässt sich anmerken, dass Djitté Sekunden zuvor das Pech hatte, als Goalie Faivre den Ball an den Pfosten lenkte. Die Fortsetzung ist trotzdem kein Zufall. Sorgic erzielt das 3:0, Salanovic antwortet auf Adryans 1:3 mit dem vierten Treffer. Yakin zeigt kaum eine Regung, Constantin sagt: «Wir waren nicht gut. In den entscheidenden Momenten machten wir alles falsch.»
So ist das an diesem Samstag, zum Ende einer Woche, in der Sion wieder einmal für Schlagzeilen gesorgt hat. Am Montag ist es 19.38 Uhr, als der Club per Communiqué Murat Yakin als neuen Trainer präsentiert. Dass darin kein Wort mehr über den entlassenen Coach Maurizio Jacobacci Platz findet, das kann in der Hektik ja einmal passieren. Umso mehr hat sich Constantin in der Öffentlichkeit über ihn geäussert und ihm taktische Mängel en masse vorgeworfen. Guter Stil ist das nicht.
Was ist einfacher: Costantin zu verändern oder Yakin?
Am Morgen danach gibt Yakin sein erstes Training. In der «Basler Zeitung» sagt er: «Ich bin nicht hierher gekommen, um Christian Constantin zu verändern. Ich weiss, was ich kann, und ich weiss, was es braucht, um Erfolg zu haben.»
Die Frage ist ohnehin: Was ist einfacher? Constantin zu verändern oder Yakin?
Zwei Alphatiere haben nun zusammengefunden: zwei mit Charisma und Charme, aber auch mit der Kälte von Machtmenschen, die für den Erfolg viel machen, zwei mit tief verwurzelten Prinzipien.
Wie soll das gehen, Christian Constantin? «On verra», sagt er am Montagabend ins Telefon, wir werden es sehen. Und wer in diesem Moment sein Lachen hört, der kann ahnen, dass er selbst gespannt ist, wie sich diese gemeinsame Geschichte entwickelt.
Yakin kennt das Wallis – und Constantin
Der Vertrag von Yakin mit Sion gilt vorerst bis Saisonende. Ihn stört das nicht weiter, er sagt, wenn es passt, sei das gut, wenn nicht, dann ebenfalls. Ums Geld geht es ihm nicht in erster Linie. Er ist finanziell längst abgesichert.
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Bildstrecke: Die Stationen des Murat Yakin
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Mit seinem alten Club, den Grasshoppers, einigt er sich am Freitag vergangener Woche auf die Auflösung des Vertrages, der noch bis kommenden Sommer gelaufen wäre und mit einem Grundsalär von 400 000 Franken dotiert war. Das macht für ihn den Weg frei ins Wallis.
Er kennt dieses Tal aus seinen Kindertagen in Münchenstein BL, als sein Vater bei der Lonza in Visp Arbeit fand und er ihn mit seinem Bruder Hakan oft in den Ferien besuchte. Und Constantin kennt er schon lange. Immer wieder ist er ihm über den Weg gelaufen, als er mit Thun, Luzern, Basel oder eben GC gegen Sion spielte. Constantin erinnert sich an Begegnungen mit Mannschaften, die von Yakin taktisch gut eingestellt worden seien.
Die Vorwürfe müssen ihn beschäftigt haben
Es mag nun ein grosses Wort sein, aber das Wallis ist für Yakin auch ein Ausweg. Sein Ruf hat gelitten nach seinem Zürcher Abenteuer, er hat viel Negatives über sich lesen müssen, viel Kritisches.
Öffentlich hat er sich nie dazu bislang geäussert. Aber die Vorwürfe müssen ihn beschäftigt haben, weil er daraus ablesen konnte: Wer will sich in der kleinen Schweiz jetzt noch auf ihn einlassen? Wer will es wagen, einen Trainer zu holen, dem ein Machtstreben nachgesagt wird, einen Trainer, der auf Unabhängigkeit drängt und höchstens den Präsidenten als Vorgesetzten akzeptiert, der als schwer führbar gilt?
228 Tage war er bei GC tätig: euphorisch vorgestellt am 25. August 2017, emotionslos weggeschickt am 10. April 2018. Dazwischen lagen ein Herbst, in dem er die Mannschaft stabilisierte und vom 9. auf den 4. Platz brachte; ein Winter, in dem er sie mit vielen Transfers unnötig auseinanderriss; und ein Frühjahr, in dem er sich wiederholt ungeschickt über Spieler äusserte und in wüsten internen Kämpfen aufrieb.
Präsident, Trainerschreck, Entertainer
Wenn Yakin einsichtig ist, hat er aus diesen Tagen die richtigen Schlüsse gezogen. Constantin wird ihm sonst dabei sicher auf seine ganz eigene Art helfen. Als Präsident, der die Regeln vorgibt und sich notfalls drohend hinter der Trainerbank im Tourbillon aufbaut. Als Trainerschreck, der mit seiner Erscheinung nicht laut werden muss, um einschüchternd zu wirken. Als Entertainer, der bei seiner berühmten Sauerkraut-Gala schon als Napoleon und Elvis auftrat. Constantin kennt für alle Grenzen, nur nicht für sich.
Yakin selbst hat immer polarisiert. «Der Einzige, der mich verstehen kann, bin ich», sagte er einmal. Da war er 21 und bereits strotzend vor Selbstvertrauen. Geprägt war er, das siebte Kind der Emine Yakin-Güldag, von seiner Jugend: Daheim fehlte der Vater, deshalb musste Murat seiner Mutter, die kaum Deutsch spricht, Behördengänge abnehmen und sich um seinen jüngeren Bruder Hakan kümmern. Der FC Barcelona war sein grosses Ziel. Von den strategischen und spielerischen Anlagen her hätte es ihm unbestritten dazu reichen können. Die waren überragend. Er hatte nur ein Handicap: dass er nicht nur in der Schule ein Minimalist war, sondern auch auf dem Fussballplatz.
Sein Selbstvertrauen macht ihn furchtlos, es kann abschrecken, ja. Aber es ist nicht aufgesetzt, nicht antrainiert. Es ist natürlich. Banal gesagt: Yakin ist, wie er ist, gewachsen mit seiner Geschichte des Kindes von Einwanderern aus der Türkei.
Sylvester Stallone, das Ido lder beiden Yakins
Als er noch bei der Mutter wohnte und regelmässig Abende vor dem Fernseher verbrachte, schaute er mit Hakan die Rocky- und Rambo-Filme von Sylvester Stallone. Im «Tages-Anzeiger» erzählte er einmal: «Stallone war unser Idol, er kämpfte, mutig, allein, und nach jedem Film fühlten wir uns stark.»
Vor acht Tagen ist dieser Murat Yakin 44 Jahre alt geworden. Als Trainer hat er viele Clubs gesehen, Frauenfeld, Concordia Basel, Thun, Luzern, Basel, Spartak Moskau, Schaffhausen, GC. Er führte Thun in die Super League, Luzern auf Platz 2 der Super League und in den Cupfinal, Basel zu zwei Meistertiteln und in den Halbfinal der Europa League, er rettete Schaffhausen vor dem Abstieg in der Challenge League.
Einzig bei GC verspekulierte er sich.
Gattuso bei Milan, Petkovic Nati-Coach
Nun traut er sich Sion zu. Begrüsst wird er hier freudig, speziell von seinem Chef. «Die Spieler sind glücklich, dass er da ist, die Mitarbeiter sind es, ich bin es auch», sagt Constantin. Und auch: «Er ist aktuell der beste Trainer in der Schweiz.» Besser als Marcel Koller? «Ja, Kollers Erfolge in der Schweiz liegen schon lange zurück.»
Constantin geht davon aus, «dass Murat wieder einmal bei einem ganz grossen Verein gefragt ist». Was muss er leisten, um auf sich aufmerksam zu machen? «Die Prüfung bei mir bestehen.» Er lacht dazu zwar, als Scherz will er das trotzdem nicht verstanden haben. Darum fügt er bei: «Gennaro Gattuso war bei mir. Wo arbeitet er heute? Bei der AC Milan. Vladimir Petkovic war bei mir. Aus ihm ist der Schweizer Nationaltrainer geworden.»
Vier Tage kann Murat Yakin mit seiner neuen Mannschaft trainieren, bevor er sie also in Thun erstmals im Einsatz sieht. «Was soll er machen, wenn er auf der Tribüne sitzen muss?», fragt Constantin nach dem 1:4. Am Donnerstag gegen den FC Zürich verbüsst Yakin seine zweite Sperre, am Sonntag in Luzern darf er erstmals an der Seitenlinie stehen. Bis dahin hat er ganz viel Arbeit vor sich.
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