Der verlorene Vater
Papst Franziskus ist einmal mehr nach Südamerika gereist, diesmal nach Chile und Peru. Um seine Heimat Argentinien macht er erneut einen Bogen. Das könnte politische Gründe haben.

Am Grenzübergang Cristo Redentor / Los Libertadores muss man sich gerade auf längere Wartezeiten einstellen. Vier Stunden oder mehr. In Argentinien sind Sommerferien, und viele Familien fahren über die Anden hinweg nach Chile, wo es kühle Pazifikstrände und günstigere Shoppingmalls gibt. In diesem Jahr scheint die Karawane an der Passstrasse zwischen dem argentinischen Mendoza und Santiago de Chile allerdings alle Rekorde zu brechen. Denn das Nachbarland lockt noch mit einem weiteren Reisegrund: Für Montagabend wurde Papst Franziskus in Santiago erwartet, und heute Dienstag wird er dort die erste Messe seiner sechstägigen Reise durch Chile und Peru feiern.
Die Behörden in Buenos Aires schätzen, dass dieser Tage zwischen 700'000 und einer Million Argentinier die Grenze nach Chile überqueren werden, zu Lande oder auf dem Luftweg. Die meisten dürften als Pilger anreisen, in der festen Überzeugung: Wenn sie ihren Papst noch einmal live sehen wollen, dann ist jetzt die beste Gelegenheit. Dass er irgendwann doch noch mal nach Hause kommt, nach Argentinien, darauf will sich kaum noch einer verlassen.
Heimatbesuch eigentlich Pflicht
Dabei schien der apostolische Heimatbesuch zu den Pflichtterminen der vatikanischen Reiseplanung zu gehören. Papst Johannes Paul II. war neunmal in Polen, Benedikt XVI. dreimal in Deutschland. Auf das erste Heimspiel von Franziskus fiebern seine Landsleute seit fast fünf Jahren hin, seit er als Kardinal Jorge Mario Bergoglio seine Geburtsstadt Buenos Aires verliess, um Benedikt in Rom abzulösen. Und als dann der Terminkalender für 2018 veröffentlicht wurde, da hiess es in Argentinien nicht: «Aha, er besucht Chile und Peru», sondern: «Kann das denn wahr sein? Er kommt wieder nicht zu uns!»
Insgesamt können sich die Latinos über den ersten Papst aus Lateinamerika nicht beklagen: Er war in Brasilien (2013), Ecuador, Bolivien und Paraguay (2015), Kuba (2015), Mexiko (2016), Kolumbien (2017). Umso lauter hadern die Argentinier mit ihrem Los. Diesmal ist er ja fast zum Greifen nahe – und weicht ihnen doch wieder aus. Jorge Oesterheld, der Sprecher der argentinischen Bischofskonferenz, räumt in der gebotenen diplomatischen Untertreibung ein: «Es ist schon ein bisschen schmerzhaft, dass er über unser Land hinwegfliegt, um anderswo zu landen.» Die argentinische Zeitung «La Nación» geht deutlich härter mit dem verlorenen Sohn (oder sollte man sagen: mit dem verlorenen Vater?) ins Gericht. Und die unergründlichen Reisewege des obersten Hirten zu entschlüsseln, fällt offenbar auch den führenden Bergoglio-Kennern schwer. Hat es politische Gründe? Oder liegt er mit den argentinischen Bischöfen über Kreuz? Weil niemand ausser dem Papst und vielleicht dem lieben Gott die Antwort kennt, wird wild spekuliert.
Gängig ist die Deutung, dass Franziskus den argentinischen Präsidenten Mauricio Macri meidet. Vielleicht nicht wie der Teufel das Weihwasser, aber doch wie ein Peronist einen liberal-konservativen Multimillionär. Es ist kein Geheimnis, dass Bergoglio und Macri wenig verbindet. Andererseits hat auch Macris linkspopulistische Vorgängerin Cristina Kirchner zweieinhalb Jahre lang vergeblich auf den Papst gewartet, was als Zeugnis der Zerrissenheit des Peronismus interpretiert worden war.
Die argentinische Gesellschaft ist gespalten, und oft heisst es auch, der Papst wage sich deshalb nicht nach Hause, weil er sich von keiner Seite politisch instrumentalisieren lassen wolle. Aber wäre es nicht die Aufgabe eines Pontifex, eines Brückenbauers, hier vermittelnd einzugreifen? So wie er es bei seinem Besuch im bürgerkriegsgeplagten Kolumbien getan hat? Oder bei seiner Doppelreise nach Kuba und in die USA?
Dass er sich vor heiklen Auslandseinsätzen drücken würde, kann ihm keiner vorhalten. Sonst brauchte er nicht nach Chile zu kommen, in ein Land, in dem der Katholizismus einen schweren Stand hat. Der chilenische Klerus ist durch eine Reihe von Missbrauchsskandalen diskreditiert. Zuletzt gab es sogar Brandanschläge auf Kirchen. Der Mehrheit der Chilenen ist dieser Papstbesuch aber egal, wie Umfragen belegen. Das macht die Wahl der aktuellen Reiseroute für die Argentinier nicht unbedingt erträglicher. Aber es liefert vielleicht einen kleinen Hinweis zu einer Erklärung: Womöglich ist dieser Papst ja schlichtweg der Meinung, dass es in anderen Ländern der Region für ihn Dringlicheres zu tun gibt als in seinem Heimatland.
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