Der tiefe Fall des Heinrich Lieber
Fast alles über meine Mutter: «Moosflüstern» heisst der dritte Island-Roman des in Reykjavik lebenden Schweizer Autors Joachim B. Schmidt.

Dieser Autor hat es ganz offensichtlich mit den Familiengeheimnissen – und der Bündner Bauernsohn Joachim B. Schmidt lebt seit zehn Jahren in Island. Zusammen ergibt das reichlich Stoff für familiäre Verstrickungen und Mysterien vor dem Hintergrund einer rauen, archaischen isländischen Landschaft. In Schmidts furiosem Debütroman «In Küstennähe» (2013) lüftete der Protagonist das Geheimnis eines alten Sonderlings, dessen Schwester unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen war. In seinem zweiten Roman «Am Tisch sitzt ein Soldat» (2015) lastete ein düsteres Familiengeheimnis schwer über einer Bauernsippe.
Aller guter Dinge sind offenbar drei: Im Roman «Moosflüstern» erzählt Schmidt vom ziemlich braven, um nicht zu sagen: spiessigen Bündner Bauingenieur Heinrich Lieber, der an seinem 40. Geburtstag erfährt, dass seine leibliche Mutter in Island gestorben ist und er dort drei Halbschwestern hat. Damit gerät das scheinbar grundsolide Lebensgebäude eines Mannes ins Wanken, der Vater von drei Kindern ist, seiner Frau schleichend fremd wird und seine ganze Leidenschaft auf eine Modelleisenbahn im Keller konzentriert.
Deutsche Frauen importiert
Ganz konkret bricht auch noch eine Lagerhalle unter der Last des Schnees zusammen, zwei portugiesische Arbeiter sterben. Und er, der für seine geradezu pedantische Exaktheit bekannte Heinrich Lieber, hat tatsächlich einen Fehler gemacht, die korrigierten Pläne nicht auf die Baustelle weitergeleitet. In dieser ungemütlichen Situation ist die Reise nach Island auf den Spuren dieser unbekannten Mutter eine höchst willkommene Gelegenheit zur Flucht.
Der Hintergrund der Geschichte ist historisch verbürgt. 1949 liess der isländische Bauernverband rund 300 junge deutsche Kriegswitwen nach Island kommen: Gefragt waren sie als Hilfskräfte auf Bauernhöfen und als künftige Ehefrauen, herrschte doch damals akute Frauenknappheit auf der Vulkaninsel, weil nach Ende des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Isländerinnen den dort stationierten amerikanischen Soldaten in deren Heimat gefolgt waren. Auch Anna Lieber entflieht den Erinnerungen an den Kriegshorror und lässt einen Mann und ein Baby zurück.
Am Ende des Weges
Schmidt entfaltet das Geschehen auf zwei Ebenen: Wir folgen Heinrich Lieber über die Zwischenstation Paris – wo eine Schwester seiner leiblichen Mutter lebt – nach Island. Parallel dazu lässt die alte Anna Lieber in einem Pflegeheim ihr Leben in Island facettenreich Revue passieren: Die Überfahrt, das karge Leben auf einer abgelegenen Farm in den Westfjorden, die Familiengründung mit dem wortkargen, aber empfindsamen Dagur. Der Autor hat im Laufe seiner Recherchen mit etlichen deutsch-isländischen Frauen reden können und verarbeitet diese Erkenntnisse mit Gewinn in diesen dichten Erzählstrang, die eingenommene weibliche Perspektive wirkt überzeugend.
Weniger geglückt ist indes die Läuterung des Protagonisten, der nach leicht klischierten Sauftouren und sentimentalen Friedhofsgesprächen mit der toten Mutter am Ende seines Weges eine Halbschwester auf der verlassenen Farm antrifft und einen Berg besteigt, der sein Schicksal anscheinend besiegelt. Im dichten Nebel stürzt er und fällt ins Meer – er wird Treibgut, das sich mit letzter Kraft an einem Baumstamm festhält. Stirbt er wirklich, während ihm die Mutter als Engel erscheint? Der Prolog lässt einen zwar zweifeln, kann aber nichts daran ändern, dass hier eine tragische Fallhöhe behauptet wird, die diese Figur nicht hergibt.
Joachim B. Schmidt: Moosflüstern. Roman. Landverlag, Langnau, 2017, 300 Seiten, 31.90 Fr.
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