Der Maler Van Gogh ist eigentlich ein Zeichner
Alle lieben Vincent Van Gogh. Aber kennt man ihn wirklich? Die Wiener Albertina bietet in einer sensationellen Schau einen neuen Blick auf ihn.
Künstler können nichts dafür, wenn der Blick auf sie von Mythos und Markt verstellt wird. Mehr als jedem anderen widerfuhr dies Vincent Van Gogh (1853–1890), der zu Lebzeiten schmal durch musste und der heute alle Rekorde schlägt – beim Publikum wie bei Auktionen. Also macht sich Skepsis breit, wenn wieder mal eine Van-Gogh-Ausstellung auf der Agenda steht. Soll der Blockbuster eine Institution sanieren?
Zeichnungen aus der Quarantäne
Die Wiener Albertina, weltweit eine der bedeutendsten Grafiksammlungen, ist, zumal sie selber nur zwei Zeichnungen des Niederländers besitzt, eigentlich nicht prädestiniert für eine Van-Gogh-Schau. Aber die Institution will seit ihrer Renovation und Wiedereröffnung 2003 unter ihrem Direktor Klaus Albrecht Schröder Zeichnung und Grafik vermehrt aus der Gattungs-Quarantäne befreien und im Kontext eines OEuvres situieren. Ein Ansatz, mit dem man neben den hauseigenen Beständen auch das Know-how ins Rampenlicht stellt; kein unwichtiger Nebeneffekt, da Spezialistentum heute oft zu Unrecht beargwöhnt wird.
Das Publikum profitiert, wie schon die Rubens- und Dürer-Ausstellungen zeigten. Das gilt auch für die exzellente Schau «Van Gogh – Gezeichnete Bilder». Sie zeigt nicht einfach nur den zigsten Aspekt des Werks, sondern richtet den Blick auf diesen Künstler neu aus, reinigt ihn radikal von Klischees. Die zündende Idee stammte von Direktor Schröder und wurde von einem Team aus Kunsthistorikern der Albertina und des Van-Gogh-Museums in Amsterdam umgesetzt. Letzteres besitzt und erforscht den Nachlass des Künstlers. Kerngedanke der Schau: Van Gogh, den man bisher hauptsächlich als Maler – noch dazu als leidenschaftlich-unkontrolliertes Exemplar der Spezies – und als Virtuosen der Farbe wahrgenommen hat, als durchaus mit kontrolliertem Kalkül zeichnenden Künstler neu zu entdecken. Es geht nicht primär darum, direkte Beziehungen zwischen Zeichnungen und Gemälden herzustellen, sondern die durch und durch moderne Emanzipation der Zeichnung bei Van Gogh herauszuarbeiten, das Zeichnerische als dominantes Prinzip seines Werks zu begreifen.
Berufsziel Illustrator
Nun klingt gerade dies für jeden, der die durch vielfältige, offenkundig zeichnerische Pinselbewegungen strukturierten Oberflächen seiner Gemälde vor Augen hat, derart einleuchtend, dass man sich fragt, warum niemand zuvor diese Ausstellung gemacht hat. Heinz Widauer, verantwortlicher Konservator der Albertina, erklärt es: Die Zeichnungen Van Goghs – von ihnen gibt es rund 1300 – sind erst in den letzten Jahren systematisch erschlossen worden. Noch die grosse Ausstellung zu Van Goghs 100. Todestag 1990 in Otterloo und Amsterdam zeigte Zeichnungen und Gemälde an zwei Orten, was den Vergleich erschwerte, ja gar nicht erst in Betracht zog.
Der Bogen der Ausstellung, die mit 140 Werken, davon 51 Gemälden, fast überreich bestückt ist, umfasst alle Schaffensphasen der nur zehnjährigen Tätigkeit Van Goghs; er reicht vom brauntonigen, sozialkritischen Frühwerk der holländischen Zeit über den abrupten Einbruch des Lichts und der Farbe in Paris (1886–88) bis zu den drei kurzen Phasen des Spätwerks in Arles, Saint Rémy und Auvers. Schon im Frühwerk des Autodidakten, der Illustrator werden wollte, ist die zeichnerische Vielfalt zumindest angelegt. Die Katalognummer 1, eine «Sumpflandschaft mit Wasserlilien», weist in ihrer Raumauffassung, im lichten Patchwork von abstrahierend wiedergegebenen Flächen auf die «Ernte»-Bilder und Felder des Spätwerks voraus, auch wenn es noch einige Zeit dauern wird, bis Van Gogh dessen expressive, dynamische Lockerheit erreicht.
Ein erster Höhepunkt sind die Gartenzeichnungen aus Nuenen, die aus der Entfernung sepiafarbigen Fotografien ähneln (Bezüge zur zeitgenössischen Fotografie, so offenkundig sie zum Teil erscheinen, spart die Ausstellung jedoch aus). Hier erzielt Van Gogh schon jene reliefhafte Plastizität einzelner Bildzonen, die ihn interessiert, wie seine Studien derber Bäuerinnen oder von Kornbündeln zeigen. Als Zeichner verfügte er dabei eindeutig schon über mehr Register denn als Maler; das verdeutlichen die zunächst eher unansehnlichen, bräunlich versuppten Ölporträts.
Prächtig bestückte Säle
Die Kontamination durch den Impressionismus in Paris ist bekanntlich das Schlüsselmoment in Van Goghs Kunst; in der Schau hellen sich nicht nur die Bilder, sondern auch die Saalwände, die zunächst in Grün und Blau abgetönt sind, auf: Den Umzug des Künstlers in die Provence signalisieren sie dann etwas gar plakativ mit saftigem Gelb. In Paris erobert Van Gogh die Farbe für sich; und er tut es, davon zeugt markant etwa das vielfach von Pinselhieben strukturierte «Seineufer», als Zeichner mit dem Pinsel – was überaus lebendige Bildoberflächen ergibt, durch die er sich deutlicher noch als mit seiner kontrastreichen Farbpalette von den Impressionisten abhebt.
In weiteren fünf prächtig bestückten Sälen – viele zeigen überraschende, weniger bekannte Werke, ohne dass auf Glanzstücke wie den Briefträger Roulin aus Detroit, die «Ersten Schritte» aus dem Metropolitan, New York, oder den Garten der Heilanstalt Saint-Rémy (Armand Hammer Museum, Los Angeles) verzichtet würde – entspinnt sich ein abwechslungsreicher, intensiver Dialog zwischen Zeichnungen und Gemälden. Van Gogh weitet sein Arsenal an zeichnerischen Chiffren fortwährend aus. Da wird – am besten sichtbar bei einigen Gartenbildern aus Arles 1988 – mal mit dünner, mal mit dickerer Rohrfeder getüpfelt, gestrichelt, schraffiert; Wellen, Spiralen, Häkchen, sogar herzförmige Gebilde werden zu einem manchmal fast abstrakten, ornamentalen Gewebe gewirkt, das in seiner vielfältig rhythmisierten Gestalt oftmals mindestens so fesselnd ist wie die parallel entstandenen Gemälde mit ähnlichen Motiven. Van Gogh hat die Zeichnungen übrigens häufig nicht, wie traditionell üblich, als Vorstudien für Gemälde, sondern nachträglich angefertigt, etwa um seinen Bruder Theo, den Kunsthändler, der ihm Material schickte, auf dem Laufenden zu halten. Auffällig ist gegen Ende seines Lebens, in den Phasen der Geisteskrankheit, die Verringerung der Variationsbreite an zeichnerischen Formeln zugunsten einer zunehmenden Abstraktion und Dynamik der Linienführung. Doch gerade hier bestätigt sich nochmals eindrücklich die These der imposanten Schau, dass der Basso continuo in Van Goghs Werk die Zeichnung ist. Vielleicht sogar mehr als das: nämlich das Zentralnervensystem.
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