Der «Lehrer der Nation» im Zwielicht
Der Pädagoge Jürg Jegge soll ihn jahrelang missbraucht haben: Diesen schweren Vorwurf erhebt Markus Zangger.

Vor der Pressekonferenz wird mit der grossen Kelle angerichtet. Der Wörterseh-Verlag kündigt ein «Enthüllungsbuch» über eine «prominente Person» an, dessen Brisanz «das Land nicht nur interessieren, sondern auch erschüttern» werde. Eine superprovisorische Verfügung, die das Buch verhindern solle, sei praktisch schon unterwegs, erzählt man sich. Entsprechend gross ist das Medieninteresse am Dienstagmorgen im Zürcher Volkshaus. Schon vor Beginn ist es mucksmäuschenstill.
Video – Autor Markus Zangger und Co-Autor Hugo Stamm im Interview:
Dann lässt Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx die Bombe platzen: «Die Geschichte geht um Jürg Jegge» – schweizweit bekannter Lehrer, Autor von Pädagogikbestsellern und viel zitierter Schulsystem-Kritiker, der neue Pestalozzi der Schweiz. Mit zittriger Stimme übergibt Baumann-von Arx das Wort an Autor Markus Zangger. Dem schiessen die Wörter regelrecht aus dem Mund: «Tatsache ist, dass ich von meinem Lehrer sexuell und psychisch massiv missbraucht worden bin.»
«Durchatmen»
Dann schildert Hugo Stamm, Sektenexperte und Co-Autor des Buches, wie Jürg Jegge den Embracher Markus Zangger im Alter von 12 Jahren auf «undurchsichtige Art und Weise» in seine eigene Sonderschule holte und ihm erklärte, dass er aufgrund sexueller Verklemmung psychisch schwer belastet sei und nur er, Jürg Jegge, ihm dank einer brandneuen und geheimen Therapie, dem «Durchatmen», helfen könne. Dabei sei es zu den Übergriffen gekommen, sagt Stamm. Die Schulbehörde habe nicht hingeschaut. Im Buch «Jürg Jegges dunkle Seite», das jetzt im Handel ist, macht das Opfer Markus Zangger die angeblich zwischen 1970 und 1983 begangenen Missbräuche erstmals publik.
Der heute 74-jährige Jürg Jegge darf im Buch keine Stellung zu den erhobenen Vorwürfen nehmen. Der TA versuchte gestern sowohl Jegge als auch seinen Anwalt zu kontaktieren. Bis Redaktionsschluss reagierten sie nicht. Eine superprovisorische Verfügung, das rechtliche Mittel zum Stoppen von Publikationen, wenn die Gegenpartei nicht angehört wurde, ist bis Dienstagabend nicht beim Wörterseh-Verlag eingegangen.
Der Anwalt des Buchautors Markus Zangger rechtfertigt die Publikation ohne Anhörung: «Wir hatten mit Herrn Jegge und seinem Anwalt im Vorfeld ungefähr achtmal Kontakt. Nachdem wir keine Einigung über eine Abfindung oder Schmerzensgeld finden konnten, wollte mein Mandant mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit treten – subjektiv und aus der Sicht eines Opfers», sagt Christoph Erdös. Auch Co-Autor und Sektenexperte Hugo Stamm rechtfertigt das Vorgehen: «Lügen des Täters, die das Opfer diskreditieren, hätten das Opfer nochmals zum Opfer gemacht», sagt er. Stamm verweist auf den ebenfalls im Buch publizierten Brief von Jegge an Zangger, den Stamm und Erdös als Schuldeingeständnis werten: Vom «Tabubruch als Mittel der Befreiung» schreibt Jegge in dem Brief vom Mai 2015. «Es gab namhafte Psychiater und Psychologen, die bestätigten, dass bei solch gemeinsamen Tabubrüchen die Jugendlichen in keiner Weise psychisch geschädigt würden, wenn sie wirklich gemeinsam seien», schreibt Jegge. Und: «Seither sind sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen sehr viel stärker kriminalisiert worden. Ich würde so etwas heute auch deshalb nicht mehr unternehmen, weil allein schon durch die allgemeine Ablehnung die jungen Menschen in eine fürchterliche Zwickmühle kämen.» Den Brief beendet Jegge mit der Frage: «Wie hast Du das alles erlebt? Hast Du, habt Ihr den Eindruck, dass das Dir, dass das Euch geschadet hat?»
Bei der Stiftung Märtplatz, die Jegge 1985 gründete und 2011 mit seiner Pensionierung verliess, zeigt man sich schockiert: «Wir sind erschüttert», sagt Geschäftsleiter Kuno Stürzinger, der Jegges Amt übernahm. Es habe während seiner Zeit weder Anzeichen noch Klagen gegeben, dass Jürg Jegge unangemessene Beziehungen zu Lernenden pflege, sagt Stürzinger. Ob Jegge angesichts dieser Vorwürfe Ehrenpräsident der Stiftung bleibe, müsse «nun der Stiftungsrat entscheiden». Im Märtplatz können Jugendliche mit Problemen eine Lehre machen und wohnen.
Die Sekundarschule Embrach konnte noch keine Auskunft über Jegges Sonderschule in den 70er-Jahren geben.
Opfer Markus Zangger und Co-Autor Hugo Stamm sprechen von einer «hohen Dunkelziffer» an möglichen weiteren Missbrauchsfällen. Vier weitere Fälle werden im Buch anonym thematisiert. Die Übergriffe sollen in Jegges Maiensäss oder bei ihm zu Hause stattgefunden haben. Stamm versichert bei der Pressekonferenz: «Es handelt sich um ziemlich deftige sexuelle Praktiken und Vorlieben.» Im Buch beschreibt Zangger Szenen, wie Jegge und er gemeinsam onanieren und wie sein Lehrer ihm dabei hilft. Er habe erst nach dem Tod seiner Frau angefangen, das Erlebte aufzuarbeiten. Die Taten wären inzwischen verjährt. Für Jegge gilt die Unschuldsvermutung.
Der Sonderschullehrer Jegge verfasste 1976 den Bestseller «Dummheit ist lernbar», der heute noch als Standardwerk für Pädagogik gilt und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Er gilt als Musterpädagoge und beliebter Experte zu Schulthemen. Erst am 25. März hatte Jegge in Zürich zum Thema «Die Schule als Lernbarriere» referiert – und zwar im Volkshaus, im gelben Saal. Als Zangger in ebendiesem Saal an der Pressekonferenz auf die fehlende Stellungnahme des angeblichen Täters angesprochen wird, wird er laut: «Das ist meine Geschichte. Der hat in meinem Buch nichts verloren.»
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