Der Japaner in mir
Man verstehe mich nicht falsch: Ich möchte hier nicht meine Grossmutter gegen japanische Touristen ausspielen. Aber manchmal wünschte ich mir doch, ich hätte etwas mehr von ihr und etwas weniger von ihnen. Es geht nicht um äusserliche Ähnlichkeiten, man hält mich selten für einen Japaner, hat mir aber gelegentlich eine physiognomische Nähe zu meiner Grossmutter attestiert – das ist es nicht. Worin ich den Japanern vor dem Käfigturm, auf dem Jungfraujoch und auf der Rigi näher bin, als mir lieb sein kann, ist mein Umgang mit Bildern. Noch bin ich nicht so weit, dass ich die ganze Umgebung pausenlos mit einer Videokamera scanne (ich frage mich gelegentlich, ob im Japaner-Paradies all diese Filme in voller Länge gezeigt werden – oder eher in der Japaner-Hölle), aber es kommt vor, dass ich an einem schönen Herbsttag 150-mal auf den Auslöser meiner Digitalkamera drücke. Dem Versuch, ein einmalig schönes Sujet zu erhaschen, fällt ein Grossteil des Geniessens zum Opfer. Ich jage Bildausschnitte, schaue für die Kamera, durch die Kamera und vergesse darob das absichtslose Sehen und Staunen. Und zu Hause stapelt sich die Beute, ungesehen, ungebraucht. Meine Tochter ist im Alter von drei Jahren gewiss 3000-mal fotografiert worden. Wenn jemand nach einer Foto fragt, komme ich trotzdem in Verlegenheit. «Ich habe kein gutes Bild», sage ich dann, und das stimmt, denn aus Hunderten von Fotos das schönste auszuwählen, ist nicht nur eine Qual, sondern ein Ding der Unmöglichkeit. Meine Grossmutter hat vielleicht ein halbes Dutzend Fotografien besessen. Wenn sie sie hervorgekramt und gezeigt hat, war das ein feierlicher Moment. So war er, der Grossvater, so war es, damals am Genfersee. Ich habe wie gebannt zugehört und die braun gewordenen Bilder ehrfurchtsvoll betrachtet.apropos@derbund.ch>
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