Der grosse Marsch nach Kerbala
Seit dem Sturz von Saddam Hussein pilgern alljährlich Hunderttausende von Schiiten nach Kerbala, um des Todes von Imam Hussein zu gedenken. Noch nie waren es so viele wie in diesem Jahr. Erneut wurde die Wallfahrt aber von schweren Anschlägen überschattet.
Ein Selbstmordanschlag auf schiitische Pilger hat am Freitag im Süden von Bagdad mindestens 30 Tote und Dutzende von Verletzten gefordert. Nach Polizeiangaben sprengte sich eine Selbstmordattentäterin etwa 60 Kilometer südlich von Bagdad im sogenannten Todesdreieck inmitten von Gläubigen in die Luft. Hunderttausende von Schiiten haben sich zu Fuss auf den Weg nach Kerbala gemacht, wo sie gestern Montag einen der höchsten schiitischen Feiertage begingen. Auch am Montag wurden mehrere Personen bei Anschlägen getötet, darunter eine Gruppe von Pilgern auf ihrer Rückkehr nach Bagdad.Hundert Kilometer zu FussDie Angriffe auf die schiitischen Pilger wecken Erinnerungen an die Bombenmassaker von sunnitischen Extremisten in den Jahren 2004 bis 2006, die Irak an den Rand des Bürgerkriegs zwischen den beiden grossen islamischen Religionsgemeinschaften brachte. Das Feuer in Irak ist eingedämmt, auch wenn es wohl noch lange dauern wird, bis die Gräben, die der Krieg zwischen den Schiiten und Sunniten aufgerissen hat, zugeschüttet sind. Dass die Schiiten ihre Pilgerfahrt erstmals seit Jahren wieder durch das ehemalige «Todesdreieck» machen können, ist ein Ausdruck für die Verbesserungen der letzten Monate. Noch nie waren es so viele wie in diesem Jahr.Seit Tagen zieht sich ein unablässiger Pilgerstrom vom Stadtteil Karrada im Osten der Hauptstadt in Richtung Süden. In Bussen, auf Pritschen- und Lastwagen sind sie unterwegs, viele machen den Weg in das rund 100 Kilometer entfernte Kerbala sogar zu Fuss. An Geschäften, Häusern und Plätzen hängen schwarze, rote und grüne Fahnen. Manche zeigen das Bildnis von Imam Hussein. Aus Lautsprechern erschallen Lobpreisungen auf sein Martyrium in der Schlacht von Kerbala im Jahr 680. An einem Platz in Jaderiya, einem Quartier im südlichen Karrada, haben Gläubige ein Schiff aufgebaut, an dessen Bug sie eine Baby-Puppe angebracht haben, die in grüne Tücher gehüllt ist und in deren Hals ein Pfeil steckt. Unablässig fliesst eine rote Flüssigkeit aus der Wunde, die den Boden wie eine Blutlache bedeckt. Heiliger und Rebell zugleichDer Tod von Hussein ist für die Schiiten Sinnbild ihrer Opfer, ihrer Unterdrückung, aber auch ihres Widerstands gegen eine ungerechte Weltordnung – ein Heiliger und Rebell zugleich. Vor 1329 Jahren unterlag Hussein mit seinen Weggefährten der Übermacht des aus schiitischer Sicht unrechtmässigen Kalifen Yazid. An Arbain, dem 40. Tag nach Ashura, seinem Todestag, der sich gestern Montag jährte, enden für die Schiiten die alljährlichen Trauerriten. Nichts markiert das sunnitisch-schiitische Schisma so sehr wie sie. Die politischen Implikationen der schiitischen Inbrunst fürchtete Saddam Hussein so sehr, dass er ihnen den Fussmarsch nur in der Nähe von Kerbala erlaubte.Persönliche Hilfe erwartetHeute wollen die meisten Gläubigen, mit denen wir sprechen, ihren Trauerzug nicht als politisches Zeichen verstanden wissen. Jaber Khudeir ist am Donnerstag zu dem langen Fussmarsch von einem Dorf in der Unruheregion Diyala nördlich von Bagdad in Richtung Kerbala aufgebrochen. «Ich tue es, um Imam Hussein zu gedenken. Politik interessiert mich nicht, sagt der 40-jährige Arbeiter. Er wünsche sich Sicherheit und Frieden. Darüber hinaus hoffe er auf den Beistand von Hussein, damit sein Augenleiden geheilt werde. Auch Ahlam Saman Ahmed, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern den Gewaltmarsch von Bagdad nach Kerbala macht, will nichts von Politik wissen. Sie wolle vielmehr dem Weg von Husseins Schwester Zeineb folgen, die ähnliche Strapazen auf sich genommen habe, sagt Ahmed. Darüber hinaus hofft sie, dass Hussein ihren Wunsch nach einem eigenen Haus erhört. «Fast das ganze Einkommen meines Mannes geht für die Miete drauf», sagt die 42-Jährige. «Es wäre so schön, wenn wir endlich ein eigenes Haus hätten.»Von Karrada brechen auch wir in Richtung Kerbala auf. Überall haben Männer aus der Nachbarschaft Stände aufgeschlagen, um die Gläubigen mit Essen und Trinken zu versorgen. Zelte bieten den Pilgern Rastmöglichkeiten. Gelassene PilgerBeinahe alle 20 Meter steht ein Polizist, insgesamt sind rund 40000 Sicherheitskräfte im Einsatz. Doch angesichts der grossen Zahl der Pilger können sie nur sporadisch Fahrzeuge und Personen kontrollieren. In Seidiya im Süden von Bagdad ist kein Weiterkommen mehr. Rechts trennt eine hohe Sprengschutzmauer, links ein Zaun den sunnitischen Stadtteil von der vierspurigen Strasse. Bis vor einem Jahr tobte hier der Krieg zwischen sunnitischen und schiitischen Extremisten. Doch trotz den Anschlägen herrscht unter den Pilgern Gelassenheit. Viele sehen ihr Schicksal in den Händen ihres Imams.«Imam Hussein hat sein Leben für den Islam gegeben. Er wird uns schützen, sagt Saad Hussein Hamudi. Die Zeit der Radikalen und der religiösen Parteien auf beiden Seiten sei zu Ende, wirft ein anderer ein. Der Wahlsieg von Regierungschef Maliki bei den Provinzwahlen habe gezeigt, dass sie keine Chance hätten, die Religion weiterhin politisch zu missbrauchen. Malikis Dawa-Partei, die älteste fundamentalistische schiitische Partei in Irak, steht freilich für den Aufstieg des schiitisch geprägten politischen Islams. Im Wahlkampf hat er allerdings religiöse Untertöne vermieden. >
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