«Während die europäische Sicherheit seit langem starke Krisensymptome zeitigte, hat Russland mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eine neue Ausgangslage geschaffen.» Damit bringt der Bundesrat Paradigmenwechsel und Zeitenwende in seinem aussenpolitischen Bericht vom 1.2.2023 treffend zum Ausdruck. Gleichzeitig verweigert er weiterhin die Bewilligung von Gesuchen Deutschlands, Dänemarks und Spaniens auf Weiterexport von schweizerischem Kriegsmaterial an die Ukraine. Er begründet seine Haltung damit, dass das Kriegsmaterialgesetz (KMG) dies verbiete. Zudem beruft er sich auf das Neutralitätsrecht und die Notwendigkeit, Russland gleich zu behandeln. Beide Begründungen halten rechtlich nicht stand.
Zulässige Wiederausfuhr
Das KMG sieht grundsätzlich ein Exportverbot an Dritte vor. Damit wird verhindert, dass Waffen und Munition in falsche Hände geraten. Das Gesetz sieht aber auch die Möglichkeit vor, eine nachträgliche Bewilligung der Wiederausfuhr zu erteilen, wenn neue erhebliche Tatsachen oder ausserordentliche Umstände vorliegen.
Der Bundesrat muss nicht auf eine Neutralitätsdebatte und eine erneute Kriegsmaterialgesetz-Revision warten.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 erfüllt diese Bedingungen klar. Es liegt eine unerwartete Verletzung des Gewaltverbots der UNO-Charta vor. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilte das Vorgehen der Russischen Föderation wiederholt. Das Verhalten der russischen Streitkräfte verletzt das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und Bestimmungen der Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Der Internationale Gerichtshof wies Russland an, die militärischen Operationen in der Ukraine unverzüglich einzustellen. Der Bundesrat hat die Völkerrechtsverletzung Russlands wiederholt in einseitigen Erklärungen auch vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bestätigt. Der Aussenminister hat mehrmals bekräftigt, dass sich die schweizerische Aussenpolitik an der Verteidigung des Völkerrechts und der multilateralen Ordnung orientiere. Selten war in den letzten Jahren eine völkerrechtliche Lage derart unbestritten. Sie steht in vollem Gegensatz zu den erklärten Zielen der schweizerischen Aussenpolitik (Art. 54 BV). Neben der Unabhängigkeit der Schweiz, aber ohne die Neutralität als Ziel zu nennen, trägt der Bund «namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie».
Keine Rückwirkung
Zwar stimmt es, dass am 1. März 2022 die verschärften Bestimmungen des revidierten KMG in Kraft traten. Diese schliessen Exporte in Länder, die in einen internationalen Konflikt verwickelt sind, kategorisch aus. Dies geht auf die Volksinitiative «Gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer / Korrekturinitiative» zurück. Doch die neuen Einschränkungen finden entgegen einer verbreiteten Auffassung auf vorher abgeschlossene und bewilligte Verträge keine rückwirkende Anwendung. Vielmehr sind die bisherigen Kriterien für die Beurteilung der Gesuche massgebend: das Völkerrecht, die internationalen Verpflichtungen der Schweiz und ihre Grundsätze der Aussenpolitik, wie sie in Artikel 54 BV festgehalten werden. Diese Kriterien erlauben eine Bewilligung der Gesuche. Denn angesichts der heutigen Kriegslage und der Haltung Russlands ist der Einsatz von Munition und Waffen und anderem Kriegsmaterial leider notwendig zum Schutz der Zivilbevölkerung der Ukraine auf deren Territorium, zum Schutz von Weizentransporten auf dem Schwarzen Meer auch zur Linderung des Hungers in Afrika und zum Schutz der ukrainischen Demokratie.
Keine Verletzung des Neutralitätsrechts
Das 5. Haager Abkommen von 1907 schreibt vor, dass alle Kriegsparteien gleichbehandelt werden müssen. Es entstammt der Zeit des europäischen Imperialismus, als Angriffskriege völkerrechtlich als Fortsetzung der Politik legitim waren. Mit dem Brian-Kellogg-Pakt von 1928 zwischen Frankreich und den USA begann sich die Ächtung des Angriffskrieges durchzusetzen. Sie fand ihre Verankerung in Artikel 2 Absatz 4 und weiteren Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen von 1945. Artikel 51 der UNO-Charta erlaubt im Falle eines Angriffs nicht nur die Selbstverteidigung des angegriffenen Staats. Alle Mitglieder der Vereinten Nationen sind vielmehr berechtigt, wenn auch nicht verpflichtet, sich an der kollektiven Selbstverteidigung zu beteiligen und dem Angegriffenen zur Seite zu stehen. Das gilt auch für die Schweiz. Das Recht der UNO unterscheidet klar zwischen Angreifer und angegriffenem Staat. Heute dürfen Angreifer und Verteidiger nicht mehr gleichbehandelt werden. Das Gleichbehandlungsgebot der Haager Konvention ist im Kontext offener Angriffskriege obsolet und mit dem modernen Völkerrecht nicht vereinbar. Die Erteilung einer Ausfuhrbewilligung an Staaten, die der Ukraine im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung beistehen, führt nicht zur Verpflichtung, Russland gleichzubehandeln.
Mit dieser Rechtslage kann der Bundesrat die Bewilligungen erteilen. Er muss nicht auf eine Neutralitätsdebatte und eine erneute KMG-Revision warten.
Thomas Cottier ist emeritierter Professor für europäisches und internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Bern.
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