
Seit Wochen befinden wir uns in einem Übergang. Der öffentliche Raum, wie wir ihn kannten und belebten, ist verschwunden. Und auf den neuen Raum, der sich mit dem Impfstoff gegen das Coronavirus eröffnen wird, müssen wir warten. Trotz ersten Lockerungen sollen wir weiterhin zu Hause bleiben.
Wir halten uns die Welt vom Leib und beobachten sie aus sicherer Distanz – zurückgezogen in den privaten Räumen. Die Welt ist auf die Grösse unseres Quartiers, auf die Länge unserer Strasse geschrumpft.
Wir überschauen die Welt, weil wir auf sie hinunterblicken. Wir treten jetzt öfter auf den Balkon hinaus. Zwei zentrale Eigenschaften des Balkons werden durch die Pandemie aktiviert: Der Balkon bietet im momentanen Zustand des Ausharrens persönlichen Rückzug und gemeinschaftliche Teilhabe zugleich. Er ist ein privater Bereich, der in die Öffentlichkeit hinausragt. Eine Schwelle.
Äusserster Fluchtpunkt einer Wohnung
Überall auf der Welt stehen Menschen auf dem Balkon und applaudieren Ärztinnen und Pflegerinnen für deren Einsatz. Sie unterhalten ihre Nachbarn mit Gesang und Musik. Sie turnen die Bewegungen nach, die ein Fitnesstrainer unten auf dem Vorplatz vorzeigt. Sie flüchten an den äussersten Punkt ihrer Wohnung, in der sich seit Wochen das ganze Leben abspielt – Arbeit, Mahlzeit, Freizeit. Und manchmal der Eindruck von Endzeit.
Der Balkon war jahrhundertelang ein Ort der politischen Macht und Repräsentation. Herrscher zeigten sich auf ihm und liessen sich von der Bevölkerung bejubeln. Noch heute betritt der Papst den Balkon und segnet die Gläubigen, noch immer winken Königinnen und Könige ihren Untertanen zu. Mächtig ist, wer anderen enthoben ist.
Von oben ist die Perspektive total. Von meinem Balkon sehe ich, was die Schweiz zusammenhält: Ein Lastwagen liefert mehrmals täglich neue Ware für den Coop an. Die systemrelevanten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sitzen während der Pause auf umgedrehten Gemüsekisten im Schatten, halten eine Zigarette in der einen Hand, das Handy in der anderen. Die Pöstler schieben Türme von Paketen von Tür zu Tür, eine Entsorgungsfirma hebt Container hoch und lässt deren Inhalt in den Schlund des Transporters fallen. Der Metzger rollt eine zwei Meter grosse Bratwurst aus Plastik die Strasse entlang.
Im 19. Jahrhundert war der Balkon Ausdruck von wirtschaftlicher Macht – selbstbewusst nach aussen gewölbt wie ein wohlgenährtes Bäuchlein.
Als das Bürgertum gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Privileg von den Mächtigen übernahm und vermehrt Balkone bauen liess, waren diese eher Schmuckstück statt benutzter Raum. Sie waren Ausdruck von wirtschaftlicher Macht, selbstbewusst nach aussen gewölbt wie ein wohlgenährtes Bäuchlein.
Erst als die Menschen der unteren Schichten anfingen, den Balkon zu bepflanzen und für ihre Erholung zu nutzen, gewann er seine heutige Bedeutung. Mit Blumen und Kräutern holten sich jene Leute die Natur in die Stadt, die sich kein Ferienhaus auf dem Land leisten konnten. Der Balkon wurde demokratisiert. Gleichzeitig nahm man ein Stück des öffentlichen Raums in Besitz. Und seit Jahren stellt sich jeden Frühling die Frage: Ist Grillieren auf dem Balkon erlaubt?
Katze an der Leine
Der Raum des Balkons ist begrenzt, aber trotzdem durchlässig. Er ist wie ein «streunender Raum». So bezeichnete der französische Soziologe Michel de Certeau Orte, die sich durch soziale Interaktionen ständig neu ergeben. Stehe ich auf dem Balkon, ist die Strasse für mich eine Bühne, und die Geschehnisse auf der Strasse fügen sich zu einem Schauspiel, das ich vom besten Platz aus verfolge.
Ich sehe eine junge Frau, die ihre Katze an der Leine spazieren führt. Ich sehe, dass Öl aus einem Lastwagen tropft, die Feuerwehr bald anrückt und Sand über die schimmernden Flecken auf dem Asphalt schüttet. Ich sehe eine Mutter mit ihren Kindern aus dem Auto steigen. Sie überreichen der Grossmutter ein Geschenk. Die Übergabe dauert wenige Sekunden, die Verabschiedung, bei der alle Distanz halten, dauert länger: «Ciao, ciao!» – «Ciao, grazie, buona giornata!» – «Ciao, baci!» – «Ciao, bambini, ciao!» – «Ciao, nonna.»
Ich schaue zur gegenüberliegenden Häuserzeile und sehe Balkon um Balkon um Balkon, alle nebeneinander aufgehängt wie gerahmte Bilder. Diese Gemälde könnten Titel tragen wie: «Pinkfarbene Blumentöpfe», «Politische Flaggen», «Rauchender orthodoxer Jude».
Mehr Licht, mehr Luft
Auf dem Balkon überblickt man genauso, wie man erblickt wird. Wenn ich auf meinem Balkon sitze, befinde ich mich selber auf einer Bühne. Wer an meinem Haus vorbeispaziert, vorbeijoggt, vorbeifährt, kann zu mir hochschauen und sich darüber wundern, was ich gerade tue: Bier trinken und in den Laptop starren, den Stuhl in die einzig beschienene Ecke rücken, weil der Sonnenschutz des Nachbarn Schatten auf meinen Balkon wirft statt auf seinen. Zähneputzend die Pflanze giessen.
Im 20. Jahrhundert wurden die Balkone zum Thema der modernen Architektur, weil sie das Leben in der Stadt gesünder und hygienischer machten. Über die Balkone fällt mehr Licht in die Wohnung und dringt mehr Luft hinein. Balkone erweitern die eigene Bewegungsfreiheit und ersetzen den fehlenden Garten. Im Lauf des 21. Jahrhunderts gingen Balkone in der Betrachtung vieler Architekten wieder vergessen. Sie waren alltäglich geworden und schienen ausgeschöpft. Bis jetzt.
Viele Menschen werden von den Einschränkungen durch das Coronavirus inspiriert. Wer das Glück hat und einen Balkon besitzt, betrachtet und nutzt ihn anders. Kreativ und gemeinschaftlich, als weiteres Zimmer. Manche schneiden befreundeten Personen die Haare auf dem Balkon, sie seilen Körbchen mit Esswaren ab, befestigen Gläser an langen Ästen und stossen – über die Balkongrenzen und die dazwischenliegende Strasse hinweg – miteinander an. Der Balkon ist ein Gegenstand des Alltags geworden.
«Schlüsselelement» für die Stadt von morgen
Für Tom Avermaete sind Balkone eines der wichtigsten baulichen Elemente in einer Stadt. Avermaete ist Architekturprofessor an der ETH Zürich und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Balkon. In einem aktuellen Forschungsprojekt geht er der Frage nach, wie das Virus den Balkon beeinflusst und welche Rolle dieser in Zukunft spielen könnte. Avermaete sagt, Corona sei für die Architektur ein Weckruf.
Städte stehen vor grossen Herausforderungen: Verdichtung, mangelnde Grünflächen, Klimawandel, Sommerhitze, die kaum entweichen kann. Städteplanerinnen müssen überlegen, wie sie den Bewohnerinnen und Bewohnern mehr Raum bieten können, bessere Luft oder einen Rückzugsort, um sie vor möglichen neuen Pandemien zu schützen. Avermaete sagt: «Der Balkon ist ein Schlüsselelement.»
Bald ist Sommer, bald sind Ferien, wir müssen zu Hause bleiben. In São Paulo haben Bewohnerinnen eines Mehrfamilienhauses, wegen der Quarantäne daheim eingesperrt, das Sims vor dem Fenster zu einem winzigen Balkon umgedeutet. Auf dem schmalen Streifen sonnen sie sich im Bikini. Als sässen sie auf einem Felsen, nur einen Sprung über dem Meer.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Essay über den Balkon – Der beste Platz in der Stadt
Der Balkon war einst Ort demonstrativer Macht. Durch Corona wird er zur Rückzugsmöglichkeit. Einerseits.