Retrospektive Delphine SeyrigDer «beste Film aller Zeiten» läuft jetzt in Bern
Die Schauspielerin Delphine Seyrig (1932-1990) gab der Avantgarde ein Gesicht und setzte sich als Regisseurin für feministische Anliegen ein. Das Kino Rex widmet ihr eine Hommage.

Grosses Erstaunen, als bei der Umfrage nach den «besten Filmen aller Zeiten» letztes Jahr im Magazin «Sight and Sound» auf dem Spitzenplatz keiner der üblichen Verdächtigen wie «Citizen Kane» von Orson Welles stand, sondern ein belgischer Film, den selbst viele eingefleischte Cinephile nur vom Hörensagen kennen: «Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles».
Ein glückliches Timing, dass der 1975 von Chantal Akerman inszenierte Film nun wieder einmal im Kino läuft – in der Retro «Delphine Seyrig: Schauspielerin der Avantgarde». Schuhe putzen, Haare kämmen, einkaufen, Kartoffeln schälen: In streng stilisierten, nie durch Zwischenschnitte unterbrochenen Einstellungen schildert der 201 Minuten lange Film drei Tage aus dem Leben einer verwitweten Frau mit ihrem Sohn. Trotz der schlafwandlerischen Routine, mit der Jeanne ihre Tätigkeiten verrichtet, ist von der ersten Szene an klar, dass hier kein selbstbestimmtes weibliches Leben glorifiziert wird.
Nicht auf der inhaltlichen Ebene, sondern in der mutigen formalen Gestaltung hat Akermans Film Vorbildcharakter: Eine so radikale Entschleunigung und eine ebenso radikale Entsorgung von allem Zierrat könnten nicht nur dem Kino guttun, sondern dem ganzen Planeten.
Rätselhafte Werke
Die 1932 geborene Delphine Seyrig hat sich von Anfang an auf Rollen in Filmen abseits des Mainstreams spezialisiert. «Hat dieses Hotel viele Geheimnisse?», fragt sie als namenlose Aristokratin in Alain Resnais’ «L’année dernière à Marienbad» (1960). Noch viel mehr Geheimnisse als der Schauplatz hat die Inszenierung: «Marienbad» verschliesst sich einfachen Deutungen und gehört bis heute zu den rätselhaftesten Filmen der ganzen Kinogeschichte.
«Accident» (1967), das Drama um die Vor- und Nachgeschichte eines tödlichen Unfalls, die surreale, fast nur aus Träumen und Träumen von Träumen bestehende Komödie «Le charme discret de la bourgeoisie» (1972), die essayistische Kolonialstudie «India Song» (1975): Auch diese Filme sprengen gängige kinematografische Konventionen.
Sie sei «eine überirdische Erscheinung», lobt sie François Truffauts Alter Ego Antoine Doinel in «Baisers volés» (1968). «Ich bin eine Frau», widerspricht sie. «Alle Frauen sind aussergewöhnlich, jede auf ihre Art.» Quer zu ihrem Image als schöne Aristokratin trat sie schon 1963 mit grauen Haarsträhnen auf, um in «Muriel ou le temps d’un retour» überzeugend eine unter Kriegstraumata leidende Antiquitätenhändlerin zu spielen.
Sie filmte feministische Demos
Schriller noch als die Rolle der Blutgräfin in «Les lèvres rouges» (1971) war sie als Superheldin Marie Magdalene in der Groteske «Mr. Freedom» (1969). In den 1970er-Jahren wirkte sie auch in amerikanischen Actionfilmen mit, etwa als kriminelle Kidnapperin in Don Siegels «Black Windmill», und begann gleichzeitig, hinter der Kamera aktiv zu werden: Sie filmte feministische Demos und gründete mit Carole Roussopoulos das Kollektiv «Les insoumuses».
Seyrigs bekannteste Regiearbeit ist ein Dokumentarfilm, in dem sie 24 Berufskolleginnen zu ihren Erfahrungen in der Männerkinowelt befragte und für den sie frech den Titel einer plumpen Uralt-Klamotte stahl: «Sois belle et tais-toi». Sie selbst hat bis zu ihrem Tod im Alter von nur 58 Jahren nie geschwiegen.
Ab Donnerstag, 2. März, im Kino Rex, Bern.
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