Es sind die wohl wichtigsten 34 Seiten Französisch des Jahres, wenn nicht Jahrzehnts: Der Text des Rahmenabkommens, über das sich die Schweiz seit gefühlten Menschenaltern in Diskussionen ergeht, ist endlich öffentlich. Bisher gab es zum «InstA», wie es im Verwaltungsjargon neuerdings tituliert wird, viel Meinung und wenig Gewissheit. Nach dem gestrigen Bundesratsentscheid hat jetzt jede und jeder die Möglichkeit, den Vertrag einzusehen – gut so. Die Transparenz kann die Qualität der Debatte nur heben.
Und in der Tat verdient das Rahmenabkommen die sorgfältigste Prüfung, die sich denken lässt. Ja oder nein – dieser Entscheid ist hier für einmal massgeblich dafür, in welchem Land unsere Nachgeborenen aufwachsen werden. Mit einem Ja wird die Schweiz einen nicht zu unterschätzenden Teil ihrer Souveränität abtreten. Sie wird enger an das Schalten und Walten der europäischen Politiker und Richter gebunden. Sie könnte gezwungen sein, EU-Bürger grosszügiger mit Sozialleistungen auszustatten. Im schlimmsten Fall riskiert sie, dass der gelockerte Lohnschutz die hiesigen Saläre dem Niveau der Nachbarländer entgegendrückt.
Dass sich der Bundesrat dieser Aufgabe komplett verweigert, macht einigermassen sprachlos.
Auf der anderen Seite glauben nur Naivlinge, dass bei einem Nein der erhoffteste aller Effekte eintritt: nämlich keiner. Jede Wortmeldung, jeder Atemzug aus Brüssel macht deutlich, dass die EU in ihren Beziehungen mit der Schweiz ein neues Zeitalter angebrochen sieht. Statische Verträge mit Anpassungen à la carte, die der Schweiz anderthalb glückliche Jahrzehnte brachten, werden uns von den europäischen Entscheidungsträgern nicht mehr zugestanden. Weist die Schweiz das Rahmenabkommen zurück, weiss niemand, was geschieht. Kleine Quälereien für den Finanzplatz und die Bildungsinstitute könnten der Anfang sein. Der Abschluss sind sie bestimmt nicht.
Es ist eine anspruchsvolle Gesamtrechnung, die nun ansteht. Dass sich der Bundesrat dieser Aufgabe komplett verweigert, macht einigermassen sprachlos. Mit ein paar Vertragsparagrafen sind wir einverstanden, mit anderen nicht, schaut ihr euch jetzt das Ding mal an. So lautet, auf einen Nenner gebracht, die Botschaft, mit der sich die Regierung gestern an die Nation wandte. Die Unfähigkeit zur Gewichtung, zur Würdigung des Erreichten und zu entsprechendem Positionsbezug ist schwer verzeihlich. Keine andere Instanz im Land verfügt über so viele Informationen und sollte so klar über Partikularinteressen stehen wie der Bundesrat. Statt seine Verantwortung wahrzunehmen, wirft er, gleich einem mürrischen Hundebesitzer, den Vertragstext wie einen Knochen dem Volk vor die Füsse.
Die gestrige Vorstellung des Bundesrats macht deutlich, dass die personelle Erneuerung des Gremiums nicht zu früh kommt. Eine europapolitische Linie wiederzufinden, ist vordringlich. Die zwei neuen Bundesrätinnen sind hier vielleicht so gefordert wie nirgends sonst.
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Dass sich der Bundesrat verweigert, macht sprachlos
Die Schweiz muss nach der Veröffentlichung des EU-Vertragsentwurfs rechnen und abwägen. Der Bundesrat will dabei nicht helfen.