«Das Unfertige fasziniert mich»
Seit 2004 wirkt der langjährige Berner Stadtplaner Jürg Sulzer als Professor für Städtebau in Dresden.Wohnungsleerstand und Bevölkerungsrückgang sind jetzt Themen, mit denen sich Jürg Sulzer beschäftigt – und bei denen er trotz allen Unterschieden im städtischen Leben von seinen Berner Erfahrungen profitieren kann.
Es ist nicht leicht zu finden, das Büro von Jürg Sulzer im Untergeschoss eines modernen Universitätskomplexes, weitab von der weltberühmten Dresdner Innenstadt mit Frauenkirche, Zwinger und Schloss. Doch da sitzt er an einem grossen Besprechungstisch, gekleidet in architektentypisches Schwarz und so jugendlich-beschwingt wirkend, dass man ihm seine 66 Jahre kaum abnimmt: der ehemalige Berner Stadtplaner, der vor fünf Jahren eine neue berufliche Herausforderung angenommen hat.«20 Jahre als Stadtplaner in Bern sind eine lange Zeit», blickt Sulzer zurück. «Es war grossartig, noch einmal die Chance zu bekommen, sich vollständig zu verändern.» Die Chance – das war die Stiftungsprofessur Stadtumbau und Stadtforschung an der Technischen Universität (TU) Dresden, die von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz finanziert wird. Gleichzeitig leitet Sulzer das Görlitz Kompetenzzentrum Revitalisierender Städtebau, an dem Universitätsabsolventen den Masterstudiengang «Denkmalpflege und Stadtentwicklung» belegen können.Zum Beispiel GörlitzDass er von den Dresdner Verantwortlichen angefragt wurde und dann tatsächlich 2004 den neu geschaffenen Lehrstuhl übernehmen konnte, hängt nach seiner Einschätzung wesentlich damit zusammen, dass er aus der Schweiz langjährige Erfahrungen im Städtebau und speziell in der Denkmalpflege mitbrachte. Allerdings sind die Unterschiede zwischen Bern und den Städten in den neuen Bundesländern, denen jetzt Sulzers Hauptaugenmerk gilt, gewaltig. Das zeigt der Vergleich zwischen der Schweizer Bundesstadt und dem sächsischen Görlitz, der Kommune also, in der das von Sulzer geleitete Kompetenzzentrum seinen Sitz hat. Ebenso wie Bern verfügt Görlitz über eine weitgehend erhaltene Altstadt mit zahlreichen Baudenkmalen und darüber hinaus über intakte Quartiere von Gründerzeithäusern, wie in Deutschland die zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Ersten Weltkrieg errichteten Gebäude genannt werden. Doch die Innenstadt gilt in Görlitz nicht als privilegierte Wohnlage.Obwohl die Wohnungen mittlerweile fast alle saniert sind, steht ein grosser Teil von ihnen leer. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen verlor das direkt an der polnischen Grenze gelegene Görlitz nach der Wende mehr als einen Fünftel seiner Bevölkerung und zählt mittlerweile nur noch 57000 Einwohner. Und zum anderen ziehen es viele Görlitzer erstaunlicherweise vor, in den mittlerweile ebenfalls auf modernen Standard gebrachten DDR-Plattenbauten am Stadtrand zu wohnen. «Schau doch mal rein!»Aus Schweizer Sicht mag diese Vorliebe unverständlich sein – doch Jürg Sulzer hat eine Erklärung dafür: Zu DDR-Zeiten waren die innerstädtischen Gründerzeithäuser so heruntergekommen, dass sich privilegiert fühlte, wer eine der mit Zentralheizung und Bad ausgestatteten Neubauwohnungen ergattern konnte. Das wirkt bis heute nach. «In der Platte ist ein Stück Heimat entstanden», stellt Sulzer fest. Umgekehrt habe eine Befragung gezeigt, dass viele Menschen der Ansicht seien, die Gründerzeithäuser hätten noch immer schwarze Fassaden und primitive Ofenheizungen.Daraus resultierte eine Idee, die mittlerweile in ganz Deutschland Schlagzeilen macht: Jürg Sulzer und sein Team entwickelten unter dem Motto «Schau doch mal rein!» das Projekt Probewohnen. Dafür stellt das städtische Wohnungsunternehmen zwei leer stehende Dreizimmerwohnungen zur Verfügung, die Inneneinrichtung übernahm ein bekanntes schwedisches Möbelhaus. In diesen Wohnungen nun können ausgewählte Personen eine Woche lang umsonst wohnen – freilich nicht einfach, um Urlaub zu machen. Die Bewohner, die in der Regel aus Aussenquartieren oder dem Umland von Görlitz stammen, nehmen an einer wissenschaftlichen Untersuchung teil. Sie werden vor, während und nach ihrem Aufenthalt von den Forschern zu ihrer Einschätzung des innerstädtischen Wohnens befragt.Anfangs, berichtet Sulzer, würden immer drei Bedenken geäussert: Es gebe kein Grün, keine Parkplätze und keine guten Schulen. «Dann aber sind alle überrascht, dass es in den Gründerzeitwohnungen so schön ist.» Eine Teilnehmerin aus Zgorzelec, der polnischen Schwesterstadt von Görlitz, habe es so auf den Punkt gebracht: «Die Wohnung hat Seele.»Die Menschen einzubinden – genau darum geht es Sulzer. «Die alten Städte», sagt er, «kann man nicht retten, wenn man die Menschen nicht gewinnt.» Deshalb waren im Vorfeld der Aktion Studierende mit einem roten Sofa in der Stadt unterwegs, um die Wünsche und Bedürfnisse der Görlitzerinnen und Görlitzer in Erfahrung zu bringen. Von einem basisdemokratischen Ansatz spricht Sulzer, der durchaus mit seinem Schweizer Hintergrund zu tun habe. Schliesslich sei man es in der Schweiz gewohnt, dass man immer das Volk und nicht nur die Behörden überzeugen müsse. Bern ist «nur minim veränderbar»Ob es tatsächlich so etwas wie eine Schweizer Stadtentwicklungspolitik gibt? Auffällig ist jedenfalls, dass Regula Lüscher, einst im Stadtplanungsamt Zürich tätig und jetzt Senatsbaudirektorin in Berlin, ebenfalls einen partizipativen Ansatz verfolgt. Dabei ist der Blick von aussen nach Überzeugung Sulzers auf jeden Fall hilfreich: Gerade die Aktion Probewohnen habe wohl nur jemand entwickeln können, der von aussen gekommen sei.Was ihn an Ostdeutschland besonders reizt, ist das Offene, die Möglichkeit zum Wandel – anders als Bern, das «im Zentrum nur minim veränderbar ist». Städte wie Leipzig oder Chemnitz haben zahlreiche Industriebrachen und andere Entwicklungsflächen, was Sulzer an seine Studentenzeit in Berlin in den Sechzigerjahren erinnert, als noch überall Kriegsschäden zu sehen waren. «Das Unfertige», sagt er, «hat mich immer fasziniert.»Bei alledem ist sich der Stadtplaner bewusst, dass es viel Zeit braucht, um die ostdeutschen Innenstädte wieder mit Leben zu füllen. «Stadtumbau», hat er in einem Aufsatz einmal geschrieben, «ist ein generationsübergreifender Prozess, und es müssen nicht alle Probleme kurzfristig gelöst werden.» Daraus resultiert seine Kritik am Programm Stadtumbau Ost, mit dem die deutsche Bundesregierung seit 2002 dem Wohnungsleerstand in den neuen Bundesländern zu Leibe rückt – und zwar, indem sie den Abriss von Hunderttausenden von Wohnungen finanziell unterstützt. Das hilft zwar den grossen Vermietern, weil mittlerweile nicht mehr ganz so viele Wohnungen leer stehen, ist nach Ansicht Sulzers aber nicht der richtige Ansatz. Abriss sei dann sinnvoll, wenn die Stadt von aussen nach innen schrumpfe. Im Zentrum aber gelte es, möglichst viele alte Häuser zu bewahren und darauf zu setzen, dass die Menschen deren Qualität künftig mehr zu schätzen wüssten. Dazu beitragen kann seiner Ansicht nach eine ganze Palette von «experimentellen und innovativen Lösungen» – von der unentgeltlichen Abgabe von Räumen an nicht-kommerzielle Nutzer bis hin zu dem in Görlitz praktizierten Bemühen, ältere Menschen aus Westdeutschland als Mieter zu gewinnen.Bis 2011 macht er sicher weiterDoch auch auf Bern hat sich Sulzer einen aufmerksamen Blick bewahrt. Besonders das Wachsen von Brünnen verfolgt er interessiert – kein Wunder, war doch die Planung für Brünnen eine Konstante seiner Berner Amtszeit. Dass die Bauvorschriften aus den frühen Neunzigerjahren noch heute anwendbar sind, erfüllt ihn mit Befriedigung. Schade allerdings findet er, dass in Brünnen nun Siedlungsbau stattfindet, dass also Investoren grosse Wohnblöcke hochziehen. Viel besser fände er es, wenn individuelle Bauherren «ein einzelnes Haus neben dem anderen» errichten würden. Denn auch Bern wachse nicht ewig weiter, und in Zukunft werde es für eine Stadt noch wichtiger werden, gerade einkommensstarke Bürger anzuziehen.Zieht es ihn denn selbst nach Bern zurück? Da hält er sich bedeckt: Nach seiner Zeit in Dresden werde er wohl zeitweise in Berlin und zeitweise in der Schweiz leben. Doch vorerst bleibt er in Ostdeutschland: Auf die Bitte der Universität hin hat sich Jürg Sulzer bereit erklärt, bis 2011 weiterzumachen. Genügend zu tun gibt es ja bei der Entwicklung der ostdeutschen Städte.>
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch