Das merkwürdige Nebeneinander
Seit seinem Wahlsieg am 4. November befindet sich Barack Obama in den Startlöchern. Doch erst am 20. Januar 2009 wird der Demokrat offiziell als 44. US-Präsident vereidigt – denn noch wohnt der Republikaner George W. Bush im Weissen Haus. Diese delikate Situation erfordert viel Fingerspitzengefühl von beiden Beteiligten.
Er sollte nicht schon wieder auf dem Weg zum Flughafen sein, nicht an diesem Tag, nicht so früh am Morgen. Doch John Podesta, der als Stabschef von Bill Clinton einiges gewohnt war, fügte sich auch seinem neuen Boss und flog nach Chicago. Es war der 5. November 2008, die letzten Stimmen der amerikanischen Präsidentenwahl waren noch nicht einmal ausgezählt, aber Sieger Barack Obama bestand darauf, mit seinen engsten Beratern eine Strategiesitzung abzuhalten. Am Tag, an dem der neue Präsident normalerweise ausspannt, beratschlagte die Gruppe fünf Stunden lang. Die Sitzung hatte nur ein Thema: die Übergabe der Macht. Es sei ihm schon mehr als einen Monat vor der Entscheidung am 4. November klar gewesen, dass der Gewinner schnell handeln müsse, sagte Obama kürzlich der Zeitschrift «Time», die ihn zum «Mann des Jahres» wählte: «Also haben wir versucht, alle Zeitpläne zu straffen», damit das neue Kabinett seine Arbeit noch vor der Vereidigung des Präsidenten aufnehmen könne. «Es gibt nur einen Präsidenten»Ungelöst blieb vorerst aber die Frage, wie sich Obama in der Öffentlichkeit verhalten sollte. Unter seinen Beratern gab es zwei Extrempositionen. Die einen wollten, dass er angesichts der Finanzkrise, des zusammengebrochenen Immobilienmarktes, der nach oben schnellenden Arbeitslosenzahlen und der vor dem Kollaps stehenden Autoindustrie so viel Macht an sich reisst wie möglich. Vielleicht könne man Amtsinhaber George W. Bush gar bitten, ein paar Minister sofort zu berufen? Die anderen sprachen sich eindringlich dafür aus, zwischen der alten und der neuen Regierung eine klare Linie zu ziehen. Obama müsse mit allen Mitteln vermeiden, dass die horrenden Probleme, die Bush in seiner Amtszeit anhäufte, ihm angelastet würden. Soweit die Theorie. In der Praxis allerdings lässt sich die Machtübergabe nicht derart trennscharf handhaben. Obama entschied sich deshalb für einen merkwürdigen Mix: Er stellte seinen Beraterstab und sein Kabinett in Rekordgeschwindigkeit zusammen, äusserte sich dezidiert zu fast allen zentralen Politikfeldern – und betonte stets, laut Verfassung gebe es nur einen Präsidenten. Und dieser heisse bis am 20. Januar 2009, 12 Uhr in Washington, George W. Bush. Bush ist amtsmüdeBush auf der anderen Seite spielte brav mit, lud Barack und Michelle Obama umgehend zum Antrittsbesuch ins Weisse Haus ein und gab seinen Leuten Anweisung, die Sache so reibungslos wie möglich abzuwickeln. Dabei ist es hilfreich, dass sein Stabschef Josh Bolton und Obamas Pendant Rahm Emanuel gut miteinander können. Was nicht heissen soll, dass beide Seiten in einigen Bereichen nicht mit harten Bandagen spielten. So prüfen die Bush-Leute derzeit, wie sie möglichst viele Parteigänger in unkündbare Stellungen hieven und Direktiven derart wasserdicht formulieren, dass Obama sie nicht mit einem Federstrich widerrufen kann.Mit jeder Woche, die seit dem Wahltag am 4. November vergangen ist, klingt zudem Obamas Beteuerung hohler, dass es nur einen Präsidenten gebe. Zum einen zwingt ihn die Wirtschaftslage dazu, Entschlossenheit zu zeigen und die Märkte zu beruhigen. Zum anderen hat Bush an seinem Job in den vergangenen Wochen schneller das Interesse verloren als seine Vorgänger. Nachdem es ihm nicht gelungen war, seine republikanischen Parteikollegen zur Annahme des Rettungspaketes für die US-Autoindustrie zu bewegen, zögerte er beinahe bis zur letzten Minute, ehe er eingriff und 17,4 Milliarden Dollar bereitstellte. Das ist gerade genug Geld, damit das Problem im März wieder auf Obamas Schreibtisch landen wird.Während Bush bei seinem Abschiedsbesuch in Irak gegen fliegende Schuhe ankämpft, seine Presseleute damit beschäftigt sind, angeblich falsche Rückschauen auf seine Amtszeit zu korrigieren, und sich der Noch-Präsident in TV-Interviews an die schönen Seiten seines Amtes erinnert, trat Obama in der vergangenen Woche jeden Tag zur Pressekonferenz an. Arbeitsmarkt, Gesundheitsreform, Klimawandel: er gibt die Richtung vor, benennt sein Kabinett der Mitte und arbeitet an seinem Ruf des Machers, dem Mann, der Washington auf Vordermann bringt. Das sind die Bilder dieser Tage: Obama steht im dunklen Anzug aufrecht hinter Rednerpulten, hinter denen viele amerikanische Flaggen platziert sind. Bush plaudert in Kaminzimmern, auf Podien, das Jackett geöffnet.Der Streit um die 62 W-TastenJede Machtübergabe vom alten zum neuen Präsidenten in Amerika hat ihre eigene Geschichte. Als Bill Clinton sich 2001 aus dem Weissen Haus verabschiedete, machten Geschichten von Streichen die Runde: So entfernten oder zerstörten Clintons Mitarbeiter konsequent den Buchstaben W von den Tastaturen der Computer. 4850 Dollar, so berechnete der Rechnungshof, habe die Reparatur von 62 Tastaturen gekostet. Weitere 10000 Dollar mussten aufgewendet werden, um defekte Wegweiser oder angeleimte Schubladen zu reparieren. Die Streiche der Demokraten waren ein gefundenes Fressen für die Republikaner um George W. Bush: Der Wahlsieger warf Clinton vor, er habe die Niederlage von Vizepräsident Al Gore bei der Präsidentenwahl nicht verwunden. «Wir sehen uns nicht in der Lage, festzustellen, ob die Machtübergabe schlimmer war als vorhergehende», hielt aber der Rechnungshof fest. Die für das Land wohl fatalste war jene von James Buchanan zu Abraham Lincoln in den Jahren 1860 und 1861: Der amtierende Präsident verhinderte in seinen letzten Monaten im Amt das Auseinanderfallen seines Landes nicht mehr. Lincoln hingegen, der dank seinem Versprechen gewählt worden war, die sezessionswilligen Südstaaten zu bremsen, waren die Hände gebunden. Die Folge davon: der amerikanische Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden, der von 1861 bis 1865 tobte und Hunderttausende von Toten forderte. «Wie zwei feindliche Flotten»Ebenfalls in schlechter Erinnerung geblieben ist die Machtübergabe von Herbert Hoover zu Franklin D. Roosevelt inmitten der Weltwirtschaftskrise. Hoover war nach seiner Niederlage bei der Präsidentenwahl 1932 verbittert, und Roosevelt machte sich so unsichtbar wie möglich – weil er sich nach seinem Amtsantritt als Retter inszenieren wollte. Wenn die beiden sich doch einmal trafen, um Unabdingbares zu besprechen, lief das laut Historiker Herbert Feis ab wie «ein Aufeinandertreffen zweier feindlicher Flotten in einer nebligen Nacht – die Protagonisten schossen auf Schatten und trafen nur die Luft.» Zumindest das ersparten Obama und Bush der Nation.>
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