WM-Zeitfahren mit ReusserDas Geschenk zum 30. Geburtstag kann sie sich nur selber machen
Die Bernerin tritt am Montag als Mitfavoritin zum Zeitfahren an. Sie wundert sich selber über die Rolle.

Man muss sich bei Marlen Reusser immer beide Seiten vor Augen halten. Hier die Sportlerin, die in diesem Sommer an den Olympischen Spielen in ihrer Spezialdisziplin Silber und zuletzt bei den europäischen Meisterschaften Gold gewonnen hat. Wenn diese Frau nun bei den Weltmeisterschaften antritt und als Konsequenz dieser Resultate sagt: «Ich will wirklich gewinnen», dann ist das nur logisch.
Doch zugleich ist bei Reusser auch immer diese andere Seite präsent, ist es weiterhin eine Tatsache, dass sie ihren Sport erst seit fünf Jahren betreibt, dass sie bis vor einem Jahr als Projekt galt, mit faszinierenden physischen Talenten ausgestattet, aber angesichts der kurzen Zeit im Sport auch mit vielen Handicaps konfrontiert.
Olympiasilber nach harzigem Saisonstart: «Crazy»
Vor einem Jahr gelang ihr der erste Coup, sie gewann WM-Silber im Zeitfahren. Die aktuelle Saison ist – mit 29 Jahren – ihre erste in einem Spitzenteam. Sie verlief harzig. Nicht weil Reusser dem Niveau nicht gewachsen gewesen wäre, das gar nicht. Sondern weil sie immer wieder von Rückenproblemen geplagt wurde.
Erst als die Spiele in Tokio näherrückten, bewegten sich auch die Rückenschmerzen – in den Hintergrund. In Japan glückte Reusser der nächste Schritt. Wieder Rang 2, eine Olympiamedaille, «crazy», wie sie das gerne ausdrückt.

Das olympische Silber nun scheint in der Bernerin etwas freigeschaltet zu haben. Reusser fährt seit ihrer Rückkehr aus Asien mit den Weltbesten um die Wette, als hätte sie nie etwas anderes getan. Galt sie bislang als reine Zeitfahrerin, gewann sie in den vergangenen Wochen erstmals ein Massenstartrennen, trug in zwei Rundfahrten das Leaderinnentrikot – und hielt in einem Bergzeitfahren mit Annemiek van Vleuten mit. Das ist jene Frau, die ihren Sport seit einigen Jahren überstrahlt, so dominant ist sie.
Es war Van Vleuten, die in Tokio Gold gewann. Und es ist Van Vleuten, die nun in Flandern zum dritten Mal diesen Titel anstrebt. Wer sonst, war man lange geneigt zu fragen. Nur ist da plötzlich diese Bernerin, die sich in der Form ihres Lebens befindet, ausgerechnet am Tag ihres 30. Geburtstags zum WM-Zeitfahren antritt und sagt: «Mit diesen Beinen ist es eine Freude, Rennen zu fahren.» Und: «Es ist schon etwas schizophren: Bis vor kurzem wäre ich sooo happy gewesen über ein WM-Podest. Aber jetzt muss ich sagen: ‹Nein, ich will wirklich gewinnen.›»
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