Das andere Gesicht Italiens
Giovanna Cavallo ist der wandelnde Gegenentwurf zu Matteo Salvini. Sie hilft Migranten mit Rechtsbeistand.

Bahnhof Termini, Rom, 18.30 Uhr. Gerade hat es noch geregnet. Der Himmel steht in grellem Sturmgelb. Und alle rennen, die, die ankommen, und die, die wegfahren. Termini ist der Durchlauferhitzer der Stadt, laut und schmutzig, in der Nacht ist es hier manchmal wirklich gefährlich. Termini ist auch die Mitte Italiens, die Transitstation zwischen Nord und Süd, zwischen Süd und Nord.
Unter dem Vordach an der Via Marsala stehen junge Männer aus Afrika, sie sind die Einzigen, die nicht rennen. Sie warten auf Giovanna Cavallo, und die ist spät dran. «Gib mir zwei Minuten», sagt sie am Telefon, «ich parkiere unseren Lieferwagen.»
Auf Twitter beschreibt sie sich mit einem einzigen Wort: «ribelle», Rebellin. Das Foto dazu: Tinker Bell, die blonde Fee aus dem Comicfilm «Peter Pan». Dann ist sie da, fester Händedruck, tiefe Stimme, gar nicht so Tinker Bell. «Trinken wir etwas?», fragt sie und bestellt ein Glas Rotwein. Gleich beginnt die Arbeit mit den jungen Männern vor der Bar, unter dem Vordach.
Von den Büchern zum Recht
Giovanna Cavallo, 41 Jahre alt aus Neapel, ist eine Aktivistin von Baobab Experience. So heisst eine bekannte autonome römische Organisation, die Migranten hilft. Mit Essen, Kleidern, Sprachkursen, mit Unterkünften und mit Rechtsbeistand. Baobab, wie der afrikanische Affenbrotbaum.
Cavallo ist zuständig für die juristische Unterstützung der Flüchtlinge, von der Regionsverwaltung gibt es dafür ein kleines Budget, 40'000 Euro für anderthalb Jahre. Alle paar Tage öffnet sie den Informationsstand in ihrem Lieferwagen in Termini und erklärt den Migranten, was es mit «Dublin» auf sich hat, wie sie zu einer Aufenthaltsbewilligung kommen, was passiert, wenn sie den Bescheid erhalten, dass man sie in ihre Heimat zurückbringt. Sie hat Literaturwissenschaften studiert. «Das Recht habe ich mir selber beigebracht.»
Baobab schafft es oft in die Nachrichten, weil die Vereinigung auch zu unüblichen Mitteln greift, leer stehende Häuser besetzt und ohne amtliche Erlaubnis Zeltlager baut. Dann interviewen die Sender oft Giovanna Cavallo, sie redet gut und schnell, immer sehr deutlich. Recht allein schafft eben nicht immer auch Gerechtigkeit.
Unlängst kam die Polizei und riss das Zeltlager hinter dem anderen grossen Bahnhof der Stadt ab, der Stazione Tiburtina. Mit Baggern, wie es Matteo Salvini gefällt, dem Innenminister der rechten Lega. «Danach stand nichts mehr», sagt Cavallo. Die Migranten, einige Hundert, wurden vertrieben, sie leben nun auf der Strasse. «Ist das etwa besser?», fragt sie.
«Impresario der Angst»
Cavallo und Salvini, zwei Gesichter Italiens, eine Welt dazwischen. Vor ein paar Jahren sind sie einander in einer Fernsehsendung begegnet, da war der «Impresario der Angst», wie ihn «La Repubblica» unlängst nannte, noch Europaabgeordneter.
Cavallo zieht ihr Handy aus der Tasche, scrollt durch die Fotos, bis sie das Bild der beiden aus dem Studio findet. «Ich war etwas rundlicher, ich hatte eben erst meine Tochter zur Welt gebracht.» Wenn die Kameras weg waren, sagt sie, sei Salvini ein «simpaticone» gewesen, ein sympathischer Kerl. Damals. «Hinter den Kulissen forderte er mich auf, ihm meine Ideen nach Strassburg zu schicken.» Intelligent sei er auch, «superintelligent» sogar.
Nun mobbt er die Schwächsten. So nennt Cavallo Salvinis Politik gegen die Migranten: «ein gigantisches Mobbing». Mit seinem Gesetzesdekret zu Immigration und Sicherheit, dem «Decreto Salvini», mit der Schliessung von Aufenthaltszentren und der Einschränkung der Aufenthaltsbewilligungen habe er alles nur viel komplizierter gemacht für die Zuwanderer und viele von ihnen in die Illegalität gedrängt.

«Sie verlieren ihr Aufenthaltsrecht, gehen aber nicht weg – wo sollen sie auch hingehen? Sie rutschen ab in soziale Abgründe, das macht sie fast wahnsinnig, da gibt es auch welche, die betteln, klauen, dealen. Wie zum Teufel sollen sie sonst überleben?» Alles in dieser Geschichte sei kalkuliert, auch das Chaos. So sei es ganz einfach, dem Volk glauben zu machen, dass es noch mehr Kontrolle und Repression brauche. Noch mehr Salvini.
Und so bleibt das Thema in den Nachrichten, obschon kaum mehr Flüchtlingsboote aus Libyen in Italien anlegen. Auch jetzt, kurz vor der Europawahl, macht Salvini fast nur mit der Immigrationsfrage Stimmung, seinem Paradethema. Eigentlich ist es sein einziges Thema. Er will NGOs büssen für jeden Migranten, den sie retten, warnt vor «Terroristen» an Bord der Flüchtlingsschiffe, vor einer «Invasion», man hörte ihn schon von «Bevölkerungsaustausch» reden. Europa drohe ein «islamisches Kalifat» zu werden.
«Alles Propaganda», sagt Cavallo. «Sie soll übertönen, dass Italien nur ganz wenige Abgewiesene auch tatsächlich in deren Heimat repatriiert.» Ein Flop sei das. Und dennoch: Salvinis Lega wird ein Wahlsieg vorausgesagt, etwa 30 Prozent der Stimmen.
«Was jemand in der Bar daherredet, reicht vielen aus.»
Warum nur? Jetzt setzt sich Adam Nor Mohammed dazu, ein junger Sudanese, der seit 20 Jahren in Italien lebt und redet wie ein Römer, er arbeitet als kultureller Vermittler für Baobab. «Schau», sagt er, «die Italiener sind keine Rassisten. Die Regierung stiftet sie dazu an, sie rührt in den Unsicherheiten der Leute.»
Cavallo spricht von «institutionellem Rassismus», Rassismus von oben. «Wir sind ein Bauchvolk», sagt sie, «wir informieren uns nicht, wir nehmen nur wahr. Was jemand in der Bar daherredet, reicht vielen schon aus, und alle wiederholen dieselben Theorien, rennen demselben Leithammel nach, dem Mann der Stunde.» In diesem Klima der ungefähren Wahrnehmungen, der Thesen und Übertreibungen sei es nun mal ganz einfach zu regieren. «Wir sind ein Volk von Schafen», sagt Cavallo. Salvini habe das verstanden.
Doch es gibt auch das andere, solidarische Italien, und auch das wächst. Aus Reaktion. «Wir hatten noch nie so viele Spender und freiwillige Helfer wie jetzt», sagt Cavallo. Nach jeder Räumung gebe es eine Welle von Hilfsangeboten. «Und wir sind nun schon bei der 28., 29. Räumung.» Es sei wie bei Tetris, dem Computerspiel: «Irgendwo landen die Migranten, auch wenn alle festen Einrichtungen geschlossen werden.»
Dort ist dann Baobab, verteilt Mahlzeiten, die von Freiwilligen gekocht und über Facebook koordiniert werden, schickt Ärzte und Psychologen vorbei, verteilt Schlafsäcke. In den vergangenen vier Jahren hat Baobab gut 40000 Migranten betreut. Die meisten von ihnen waren «transitanti», die Italien nur als Etappe auf ihrem Weg in den Norden Europas sahen. Eritreer, Sudanesen, Somalier. «95 Prozent wollten weiter», sagt Cavallo. Von wegen Invasion.
Lücken zum Glück
Beim Lieferwagen steht nun ein Paar aus Tivoli, einer Stadt im Osten Roms, das einen nigerianischen Flüchtling bei sich aufgenommen hat. Emmanuel, um die zwanzig, die Haare zu Zöpfchen gezwirnt, war obdachlos. Seit fünf Jahren lebt er schon in Italien, davon die meiste Zeit auf Sizilien. Das Paar ist verzweifelt, es hat alle Dokumente dabei.
«Baobab ist unsere letzte Hoffnung», sagt die Frau. Emmanuels Aufenthaltsbewilligung, die man ihm einst aus humanitären Gründen zugestanden und ihm bisher ständig verlängert hat, läuft am 22. Mai ab. Nach Salvinis Gesetzesdekret verliert auch er sein Bleiberecht. Und dann? Emmanuel lächelt schüchtern. Seine Zukunft sei in Italien, sagt er, macht eine Pause und fügt dann leise an: «hoffentlich».
Giovanna Cavallo hat sich die Kapuze über den Kopf gezogen, es regnet wieder, sie trägt eine rote Weste, auf dem Rücken steht: Legal Aid, Rechtshilfe. Sie hört zu, blättert in den Dokumenten, verzieht das Gesicht. Eine schwierige Geschichte sei das, sagt sie, aber keine ausweglose.
Es kam schon vor, dass sie Lücken in den Gesetzen fand, die dann vielen Menschen halfen: Wenn die Regierung ihrer eigenen Unzulänglichkeit gewahr wurde, setzte sie sich auch schon an den Tisch mit den Aktivisten. Einmal gelang es auf diese Weise, Papiere für 5000 afrikanische Feldarbeiter auszuhandeln, die in Kalabrien und in Apulien Gemüse ernteten. Für einige Euro im Tag. Gegeisselt von ihren Sklaventreibern, den «Caporali» der Mafia.
Liebe mit Konsequenzen
Seit zwanzig Jahren arbeitet Cavallo schon mit Flüchtlingen, das sei ein ganz bewusster Entscheid gewesen, von Anfang an. «Ich sage mir immer, dass wir alle im Leben einmal zu Flüchtlingen werden können: Klimaflüchtlingen, Kriegsflüchtlingen, Armutsflüchtlingen.» Sie wolle dann dieselbe Liebe erfahren, die sie bei Baobab geben.
Es ist eine Liebe mit Konsequenzen. Neunzig Strafverfahren hat sich die Rebellin eingehandelt. Wegen Hausbesetzung. Oder weil sie sich gegen Beamte wehrte, die einen Flüchtling mit Gewalt wegtragen wollten. Oder weil sie an unerlaubten Kundgebungen teilnahm. Einmal sass sie drei Tage in Untersuchungshaft, im Foggiano, im Süden Italiens. «Das wünsche ich niemandem», sagt sie und lacht.
Giovanna Cavallo wurde immer freigesprochen, manchmal erst nach Jahren. Matteo Salvini dagegen beruft sich lieber auf seine Immunität als Parlamentarier, als dass er sich der Justiz stellt, die ihn wegen der Schliessung der Häfen belangen will. Zwei Italien, eine Welt dazwischen.
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