Da ist ein Loch in uns
Jedes Jahr liest man aufs Neue vom Januarloch. Nun gibt es Hinweise, dass es wirklich existiert. Könnte es am Ende ein Riss in der Zeit sein? Eine Spurensuche.

So viele reden davon, wenn sich der Neujahrsrausch verflüchtigt hat und die Tage wieder ereignislos ineinander übergehen. Aber dieses Mal machte sich das Januarloch vermutlich schon am Silvesterabend bemerkbar, ein paar Stunden zu früh – dieses Loch, in dem Dinge verschwinden, das Sachen und Erinnerungen, manchmal auch Menschen verschluckt und wenn, dann erst im Verlauf des neuen Jahres wieder freigibt.
Der Duden schreibt von einer «Periode besonders geringer geschäftlicher, politischer, kultureller o. ä. Aktivität im Januar eines Jahres», aber vielleicht ist das Januarloch mehr als diese knappe Definition, mehr als ein leeres Portemonnaie nach all den grosszügigen Festtagsausgaben. Vielleicht ist es ein metaphysisches Phänomen, ein Riss in der Zeit, der das vergehende Jahr vom beginnenden trennt. Ein Phänomen, das auch mit uns etwas macht.
Plötzlich war am Abend des 31. Dezember nämlich ein Ohrring verschwunden, und alle sieben anwesenden Gäste, versammelt in einem Wohnzimmer, halfen beim Suchen mit. Doch zwischen den Kissen: nichts, unter dem Sofa: nichts, auch im Badezimmer, unter dem Esstisch oder verhakt irgendwo in der Kleidung: nichts. Niemand konnte sich erklären, wo das Schmuckstück denn sein könnte. Und wenig später der Drink, ein Gin Tonic, angereichert mit zerhackten Kräutern, als wäre er ein Zaubertrank: ebenfalls weg. Eben noch stand er auf dem Boden, gut sichtbar für alle vor dem Spiegel, damit ja niemand darüberstolpert. Wurde er lediglich verschoben? Vorsorglich von der Gastgeberin ausgetrunken? Ging er im Alkoholdunst verloren?
Ein anderer Klang – ein Echo
Der Drink und auch der Ohrring tauchten später wieder auf, aber verändert. Der Drink in einem anderen Glas und umschlossen von einer anderen Hand und der Ohrring als Fremdkörper auf dem Balkon zwischen Getränkeflaschen, die dort zur Kühlung gelagert waren. Und obwohl ständig irgendwelche Dinge verschwinden und dies an sich nichts zu bedeuten haben muss, fühlte sich das Verlieren in der Nacht auf den ersten Januar etwas anders an. Grundsätzlicher. Als gäbe es in diesen ersten Jahrestagen einen anderen Klang, als würde aus dem Januarloch echoen, was den Menschen in den Monaten zuvor an Verlusten und Abschieden widerfahren ist. Was feiern wir denn in dieser Nacht? Dass es besser werden kann.
Am Anfang eines jeden Jahres ist also diese Leerstelle, die manche überbrücken möchten wie eine Floristin, die das Januarloch noch etwas grösser fasst und auf ihrer Website Dekotipps gibt für die «dekomässig» schwierige Zeit nach Weihnachten bis Ostern. Aus der manche etwas für sich herausholen wollen wie der Bäcker, der Brot mit einem Loch in der Mitte backt und dieses als «Januarloch» verkauft.
Oder die viele Leute auffüllen wollen mit guten Vorsätzen. Während diese Vorhaben eine Willensäusserung sind mit zuversichtlichem Blick auf alles, was da noch kommt, veranlasst das Januarloch andere zu einer innerlichen Rückschau, die all die eigenen Versäumnisse und Vergeblichkeiten zählt. Im Geheimen, mit sich selbst macht man diese Bestandesaufnahme von jenen Momenten, die sich in einem Jahr angehäuft haben wie Kleider, die man müde abgestreift hat und achtlos liegen liess. Man macht diesen Rückblick vielleicht nicht einmal bewusst, und er bleibt ungehört von den Personen, die um einen herumstehen und die Gläser schon in die Höhe halten – bereit, auf die Zukunft anzustossen.
Der Mensch schaut in der Silvesternacht in beide Richtungen zugleich, der Riss zwischen den zwei Jahren geht auch durch ihn hindurch. Und etwas weht in uns drin, in einem doppelten Sinn: Es weht wie ein leicht fröstelnder Luftzug, und es «weht» wie ein leise pochender Schmerz.
Alle haben schon gegeben
Was sind diese schmerzlichen Vergeblichkeiten? Das fragte sich auch der Schriftsteller Botho Strauss in der «Zeit»: «Ist Vergeblichkeit nicht auch wörtlich: das vergebens Vergebene? Da waren zwei alte Künstler, die erschraken darüber, was sie im Laufe der Zeit an so viele Menschen hingegeben hatten und wovon bei diesen Beschenkten keine Spur geblieben war; die nichts davon behalten und die die Gaben nicht zu Begabten gemacht hatten.»
Man muss keine Künstlerin, kein Künstler sein, um jemandem etwas zu geben – Worte, Gedanken, ein Gefühl. Alle haben schon gegeben. Vergeblich aber war die Hoffnung auf Genesung eines nahen Menschen, der dennoch starb. Wofür war sie gut? Vergeblich war das erneuerte Versprechen, das der andere trotzdem brach. Wozu kann man sich verpflichten? Vergeblich sind die Hilferufe, wenn niemand sie hören will.
Das «vergebens Vergebene» ist wie Wasser, das man auf der Strasse verschüttet. Das für einen kurzen Moment einen nassen Fleck auf dem Asphalt bildet und dann wieder verschwindet. Daraus wächst nichts, es ist unwiederbringlich, es ist für immer verloren. Wohin ein Gedanke gehe, wenn er vergessen ist, fragte Freud einst.
Mag es laut Strauss auch keine Spuren geben bei denen, die bekommen haben, so hinterlassen die Vergeblichkeiten sehr wohl Spuren bei den Gebenden – eingedrückte Stellen vielleicht, Dellen als Vorstufe kleiner Löcher, weil da jemand etwas aus sich herausgelöst und vergeben hat.
Und was, wenn man sich selbst hingegeben hat – umsonst? Dann holt man sich zurück, aber man ist, wie der Gin Tonic, wie der Ohrring in der Silvesternacht, anders geworden.
Als hätte man aus grosser Fremdheit erst zu sich zurückgefunden, allmählich nur, blind tastend. Als wäre man wieder am Anfang, bei null angelangt. Im Januarloch.
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