Buhrufe für eine feministische Version der «Carmen»
In einer Opernaufführung in Florenz wird die Hauptfigur nicht ermordet, sondern erschiesst ihren Peiniger. Die Anklage gegen Gewalt an Frauen empörte das Publikum.

Leo Muscato wollte ein feministisches Zeichen setzen. Nicht so sehr gegen Anmache, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, sondern gegen noch Schlimmeres: die Ermordung von Frauen durch Lebenspartner, eifersüchtige Ex-Ehemänner, verstossene Liebhaber. 150 Fälle von «femminicidio» gab es 2016 in Italien, fast jeden zweiten Tag einen.
Muscato, Regisseur am Teatro Maggio Musicale in Florenz, änderte deshalb den Schluss von «Carmen», der 1875 uraufgeführten Oper des französischen Komponisten Georges Bizet. Statt dass Don José seine Geliebte Carmen am Ende des 4. Aktes aus Verzweiflung über deren Zurückweisung ersticht, ist es bei Muscato umgekehrt: Carmen erschiesst ihren aufdringlichen Liebhaber. Dass sich eine Frau opfern müsse, um ihre Freiheit zu verteidigen, sei aus heutiger Sicht unerträglich, begründete Muscato die vertauschte Opfer- und Täterrolle.
Das Publikum, das vor einer Woche der Premiere beiwohnte, reagierte mit lauten Buhrufen. Das mag auch daran liegen, dass sich bei der Schlussszene eine Panne ereignete: Die Schreckschusspistole ging nicht los, statt eines Knalls hörte man ein zweimaliges Klicken, worauf Don José dennoch auf der Bühne zusammensank.

«Normalerweise steht jemand mit einer Ersatzpistole hinter der Bühne, der den Schuss abfeuert, wenn die Waffe auf der Bühne nicht losgeht», höhnte der Rezensent der Zeitung «La Stampa». Wahrscheinlich habe der damit beauftragte «Bursche» stattdessen auf seinem Handy gechattet. In sozialen Medien kursierte der Spruch, die Pistole habe aus Protest gegen die plumpe Political Correctness des Regisseurs ihren Dienst verweigert.
Derselbe Grundton herrschte in der Debatte, die sich nicht nur in italienischen, sondern auch in französischen Zeitungen entspann: Muscatos Eingriff sei zu effekthascherisch, zu wohlmeinend, zu didaktisch und deshalb letztlich kontraproduktiv. Der italienische Regisseur sei ein geistiger Nachfahre von Thomas Bowdler, der 1807 insgesamt 24 Shakespeare-Stücke in einer «familienfreundlichen» Ausgabe editiert hatte: Ohne Kraftausdrücke und, zum Beispiel, mit einer Ofelia, die nicht Selbstmord begeht, sondern zufällig ums Leben kommt.

Muscato sei ferner von demselben bilderstürmerischen Furor beseelt, der vergangenes Jahr 10'000 Personen veranlasste, eine Onlinepetition an das New Yorker Metropolitan Museum zu richten: Das Gemälde «Thérèse Dreaming» des Malers Balthus, auf dem ein junges Mädchen mit hochgerutschtem Rock zu sehen ist, müsse abgehängt werden. Und wie wäre es, fragte sich die Zeitung «La Repubblica», wenn man Moby Dick so umschriebe, dass der Wal nicht sterbe, sondern lediglich betäubt würde?
Politiker greifen solche Debatten gerne auf, das war auch bei der schiessenden Florentiner Carmen nicht anders. Dario Nardella, Bürgermeister der toskanischen Hauptstadt, Mitglied der Mitte-links-Partei Partito Democratico und Gefolgsmann des früheren italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, verteidigte den Eingriff des Regisseurs. Auf Twitter schrieb er: «Ich unterstütze die Entscheidung, den Schluss von Camen zu ändern, die nicht stirbt. Eine künstlerische, soziale und ethische Botschaft, welche die zunehmende Gewalt gegen Frauen anprangert.» Darauf fragte sich ein Twitter-User, ob wohl jemand dem Bürgermeister das Handy gestohlen habe, um «etwas Derartiges» zu schreiben.

Für Fabio Rampelli, Fraktionschef der nationalkonservativen Partei Fratelli d'Italia, beweist Nardellas Eintrag «die kulturelle Nichtsnutzigkeit des ‹Renzitums› in all seinen Formen. Wie kann man auf die Idee kommen, musikalische Meisterwerke zugunsten der Demagogie und des politisch Korrekten zu verbiegen? Die Linken sollen sich um die Frauen kümmern und die kulturellen Weltikonen in Ruhe lassen.»
Leo Muscato reagierte erschrocken und etwas ratlos auf den sogenannten Shitstorm, den er provoziert hatte. Er wunderte sich, dass es die Schlussszene war, die den Zorn von Publikum und Kritikern erregt hatte – und nicht der Umstand, dass er die Oper in einem Zigeunerlager in der Peripherie einer italienischen Grossstadt angesiedelt hatte. Aber eigentlich bringe er einen Klassiker nur auf die Bühne um «eine Debatte zu provozieren und einen Motor an Emotionen in Gang zu setzen». Das ist ihm diesmal bestens geglückt.
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