Bruderzwist im Haus Camelli
In ihrem ersten Roman «Das Benefizium des Ettore Camelli» rollt die Zürcherin Isabella Huser über fast fünf Jahrhunderte hinweg eine Familiengeschichte aus dem Trentino auf.
Niemals mehr solle im Haus Camelli jemand singen, weder Männlein noch Weiblein, und dies bis in die siebte Generation. So lautet der Fluch, der seit der Mordtat im Jahr 1686 über der Familie Camelli liegt und an die Wucht eines mythischen Bannstrahls mahnt. Ernesto Camelli hatte damals wegen einer Frau seinen Bruder Antonio ermordet. Was seither über die Camelli-Sippe hereingebrochen ist – Krankheiten, früher Tod der Kinder, der Mütter und Väter –, wird stets als Nachwirkung dieses Fluchs gedeutet, dem man nicht entrinnen kann.Ein Konfliktpotenzial birgt zudem das sogenannte Benefizium, das Laura, die Frau des Mörders, im Gründungsakt von 1712 festgelegt hat. Dieses Gut, bestehend aus einem Rebland und einem Maulbeerhang im Dorf Versano, soll den kommenden Priestern der Familie Camelli das Einkommen sichern, da sonstige Einnahmen für Männer der Kirche fehlen. Um dieses Benefizium, das von Mitgliedern des Clans oder von Aussenstehenden verwaltet wird, entbrennen immer wieder Streitigkeiten. Eine besondere Rolle spielt hier Don Teodoro (1820–1875), der sein Kirchenamt vernachlässigt, lieber in seiner Werkstatt an fantastischen Gefährten bastelt und sich überdies mit einer Frau liiert. Ihm wird denn auch das Benefizium entzogen.Fiktive FamiliensagaDie bisherigen Ausführungen stellen aber lediglich einen Zipfel der weit verzweigten Geschichte dar, die Isabella Huser, Übersetzerin und Filmproduzentin, vorlegt. Die Fünfzigjährige, Tochter einer Italienerin und eines jenischen Schweizers, entrollt – abgesehen von einigen autobiografischen Elementen – eine fiktive Familiensaga und keine persönliche Herkunftsgeschichte, wie sie in einem Gespräch erklärt hat. Dies lässt staunen, denn der Roman, dem ausgedehnte Recherchen in Archiven von Gemeinden, Bistümern und Pfarreien zu Grunde liegen, verrät viel Sinn für die Historie und liefert im Anhang auch einen umfassenden Stammbaum nach. Auch der Name des Dorfes Versano, das als topografischer Fixpunkt eine zentrale Rolle spielt, ist dem Reich der Fiktion entsprungen.Wie aber arrangiert die Autorin das beinahe erdrückende Material? In der Jetztzeit, im Frühling 2004, schickt sie die amerikanische Journalistin Heather Hughan für eine Auszeit nach Venedig. Auf dem Friedhof von San Michele entdeckt diese auf dem Grab eines Don Teodoro das Abbild eines fliegenden Gefährts, das sie zusammenzucken lässt, denn zu Hause besitzt sie die skulpturale Ausgestaltung dieses Sujets. Der Fund reizt sie, nach dem verstorbenen Don Teodoro und dem fliegenden Gefährt – einer beweglichen Tinguely-Maschine «avant la date» – zu forschen. Die Spuren führen nach Rovereto und ins Dorf Versano, wo sich noch einige Bewohner an den letzten Camelli erinnern: Ettore Camelli, den Besitzer des Delikatessengeschäfts im Palazzo der Conti Martini. Dieser Ettore Camelli (1876– 1944), der 1902 wie so viele in seinem Dorf nach Amerika auswandern wollte, übernahm damals den maroden Dorfladen und wandelte ihn mit innovativen Ideen um. Auch versuchte er, das Benefizium wieder loszukaufen, das in die Hände der Verwalter zu geraten drohte. Aus seiner Sicht entwickelt nun Isabella Huser andere Stränge ihrer Geschichte, wobei sie die Perspektiven – die direkte Ich-Form oder die distanzierende Er-Form – häufig nach filmischer Art reizvoll überblendet.Lust und ErkenntnisImmer mehr entschlüsseln sich nun nicht nur für Heather, sondern auch für die Lesenden die über Jahrhunderte gewachsenen Zusammenhänge, gruppieren sich die ehemals lose verstreuten Motive zu Ensembles. Allerdings droht darüber oft die Erzählökonomie verloren zu gehen. Zu gross ist auch der Personenbestand, der während des Lesens immer wieder dazu zwingt, den Stammbaum zu konsultieren. Daher ziehen die einen Figuren wie Schemen vorüber, müssen auf plastische Ausformung verzichten, während andere scharf beobachtete Züge erhalten.Die Qualität dieses Romans, der bei entsprechender Lesebeharrlichkeit viel Lust und Erkenntnis beschert, liegt in der atmosphärischen Dichte, der Evokation von Stimmungen in Familien, Häusern und Tälern. Isabella Huser überzeugt mit einer musikalischen, oftmals rhythmisch skandierten Sprache, die man wie eine Delikatesse aus Ettore Camellis Geschäft entgegen nimmt: mit angehaltenem Atem und weit geöffneten Augen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch