Betreten ausdrücklich erwünscht
Hoher Besuch und inspirierende Kunst: Der japanische Kronprinz persönlich beehrte das Kunsthaus Interlaken zur Eröffnung der aussergewöhnlichen Ausstellung «Japan Art Today» mit seiner Anwesenheit.

Am Rand der Höhematte im Herzen Interlakens herrscht am frühen Nachmittag reger Betrieb; zahlreiche japanische Touristengruppen fotografieren in gewohnt hoher Frequenz und blicken animiert gestikulierend zu den majestätischen Erhebungen. Diese Ausflügler wollen zweifellos hoch hinaus. Wie würden sie wohl reagieren, wenn man sie kurzerhand in ein kubisches Gebäude lotste, einen Steinwurf entfernt, in dessen erstem Stock rot-weiss angestrichen Holzlatten am Boden ausgelegt und rhythmische Akzente setzende Metallstützen im Raum verteilt sind? Natsuko Tamba Wyder hat diese Installation geschaffen, die einen auf den ersten Blick wegen vermuteter Einsturzgefahr zurückweichen lässt.
Signalisieren die rot-weissen Holzlatten gewöhnlich eine Absperrung etwa einer Baustelle, so wird hier das Gegenteil anvisiert: Betreten ist ausdrücklich erwünscht. Der Besucher ist eingeladen, dieses Fussbodenlabyrinth in immer neuen Schlaufen zu begehen. Die Holzlatten sind im tempelartigen Raum zu sich wiederholenden Zeichen angeordnet, die das japanische Wort für «Tor» bedeuten. Die in Interlakens Schwesterstadt Otsu geborene und heute in Bern lebende Künstlerin hat einen verschlungenen Pfad konstruiert, der zu keinem Ziel führt und (auch) als Einladung zur temporären Entschleunigung gelesen werden kann.
Ost trifft auf West
Die japanische Sehnsucht nach den Schweizer Bergen, das ist etwas, was Kronprinz Naruhito mit seinen künftigen Untertanen offensichtlich teilt. Dies zumindest verriet der hohe Besuch vor Wochenfrist bei seiner Ansprache im Kunsthaus Interlaken zur Eröffnung der Ausstellung «Japan Art Today».
«Die Japaner kommen in erster Linie wegen der Berge in die Schweiz», weiss auch Kurator Heinz Häsler, er setzt jedoch auf die Neugier der Touristen aus dem Land der aufgehenden Sonne, die im Kunsthaus bis Mitte August sechs Landsleuten und ihren Fotografien, Installationen und Gemälden begegnen können. Hintergrund der Ausstellung ist das 150-Jahr-Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Das kleine, feine Kunsthaus in Interlaken wurde von der japanischen Botschaft angefragt, ob Interesse an einer Ausstellung über zeitgenössische japanische Kunst bestünde.
Heinz Häsler liess sich nicht zweimal bitten, kannte er doch eine Reihe von in Europa lebenden japanischen Künstlern persönlich, darunter veritable Stars der Gegenwartskunst wie Leiko Ikemura – seit 1991 Professorin an der Berliner Hochschule der Künste – oder Chihazu Shiota, die 2015 den offiziellen Pavillon Japans an der Biennale in Venedig gestalten wird.
«Ich verstehe mich als Grenzgängerin, die über die japanische und die abendländische Kunst hinauswachsen möchte», sagt Leiko Ikemura über ihre künstlerische Arbeit. In Interlaken demonstriert sie das eindrücklich mit einer Serie von Landschaftsgemälden, auf denen zwei Welten aufeinanderprallen und die stark beeinflusst sind von den berühmten, beinahe schwebenden Genfersee-Bildern Ferdinand Hodlers. Die zunächst vertraut wirkenden Landschaften mit Titeln wie «Lago Maggiore» werden von Ikemura verfremdet durch mythologische Figuren, die in überproportionaler Grösse im Vordergrund platziert sind. Es entsteht so eine nicht mehr konkret zu verortende Traum- oder Seelenlandschaft, die an Werke wie die des Romantiker Caspar David Friedrich erinnern.
Speziell für die Ausstellung in Interlaken hat Chiharu Shiota die an ein poetisches Traumbild erinnernde Installation «A Long Day» eingerichtet. Ein unscheinbarer Schreibtisch und ein ebenso kommuner Stuhl werden mit einem dichten Gewebe aus Wollfäden umsponnen zu einem schwarzen Raum, dessen Grenzen sich aufzulösen scheinen. Von diesem Tisch sind weisse Blätter aufgewirbelt, hängen nun – als verirrte Gedanken, verworfene Ideen? – wie eingefroren in diesem betörend-bedrohlichen Gespinst.
Berglandschaften neu erfinden
Ebenfalls ein Tisch, aber ganz aus Polyester und von innen erleuchtet wie ein Schrein, stellt Masaki Nakao in Interlaken aus. Dieser Leuchttisch ist beides: ein solide wirkender, funktionaler Arbeitsplatz und perlmutt schimmerndes Kunstobjekt, in dessen Schreibplatte das Schriftzeichen für «Liebe» eingelassen ist. Der heute in Düsseldorf lebende Künstler arbeitet als ein Nachfahre der Pop-Art-Ära exklusiv mit diesem Kunststoff. Seine Werke offenbaren ihre Mehrdeutigkeit erst allmählich: Zwei Gänsefüsschenpaare an der Wand lassen den Betrachter über die textlichen Leerstellen rätseln.
Der Minimal Art nahe steht die ebenfalls in Düsseldorf lebende Kumiko Kurachi, die Emotionslosigkeit als künstlerische Haltung propagiert und einen Raum eingerichtet hat, der von schwarzen und weissen Kuben strukturiert wird. Die schwarzen Flächen wecken Assoziationen zu Malewitschs «Schwarzem Quadrat», ein diagonal über ein Fenster gehängter Rahmen wirft Fragen nach Bild und Abbild, Sein und Schein auf.
Ein obsessiver Fotograf der Schweizer Bergwelt ist Hiroyuki Masuyama, der seit 2002 mit fotografischen Arbeiten fiktiver Darstellungen der Alpen auf grosse Resonanz stösst. So schuf er nach einem Helikopterflug mit dem Fotomaterial eine «virtuelle Jungfrau» und setzte den Berg am Computer neu zusammen. Er untersucht äussere und innere Stimmungen von romantischen Malern wie William Turner und des Schweizer Pioniers der Hochgebirgsmalerei, Caspar Wolf. Der Künstler besucht die Schauplätze der vor mehr als zweihundert Jahren entstandenen Bilder auf der Kreuzegg bei der Grimselpasshöhe oder bei der Teufelsbrücke und macht Tausende von Fotografien.
Am Computer setzt Masuyama dann aus vielen Einzelteilen das Bild zusammen, das der Vorlage atmosphärisch am nächsten kommt und stellt es – mit erstaunlich plastischer Wirkung – in LED-Leuchtkästen auf. Besonders reizvoll ist das Verfahren mit drei Postkarten aus Grindelwald und Lauterbrunnen aus dem Jahr 1900, deren Bildkern in eine Aufnahme aus dem Jahr 2013 mit all den landschaftlichen – Rückgang der Gletscher – und baulichen Veränderungen eingesetzt wird. Für Kurator Heinz Häsler vertritt Masuyama das Gegenteil dessen, was seine Landsleute in touristischen Siebenmeilenstiefeln meist tun: Er nimmt sich viel Zeit, macht sich mit der Umgebung vertraut und fotografiert das Objekt aus verschiedenen Perspektiven. Der Künstler, hier ist er ein erfinderischer Tourist.
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