Berns herzlichster Service
Wo die Patina noch echt ist: Ein Besuch in der «Speiseanstalt der Untern Stadt Bern», kurz «Spysi» genannt.

Es gehört ja mittlerweile zum guten ironisch-urbanen Ton des zeitgemässen Wohnungsdekors: das Emailschild mit einem dieser Hinweise im strengen Tonfall des 19. Jahrhunderts («Nicht auf den Boden spucken», «Abort nur während der Fahrt benutzen»). Doch das Schild, das hier schwarz auf weiss glänzend «zur Speiseabgabe» weist, ist genauso echt wie die restliche Patina der Spysi an der Berner Junkerngasse.
Anders als im normalen Restaurant wird hier zu Beginn bezahlt: Im Treppenhaus des Gastrobetriebs, in welches man über das obere Gerechtigkeitsgässchen gelangt, befindet sich ein alter Schalter, dahinter sitzt eine Bonverkäuferin. Die Gäste kaufen ihren Essensgutschein – 10 Franken für das fleischhaltige oder das vegetarische Menü – und gehen dann in den Speisesaal im ersten Stock. Im hellen Saal mit Parkett findet man sich in die Schulzeit zurückversetzt – oder besser: in die Klassenlagerzeit. Die Gäste essen an langen, gedeckten Allzwecktischen, es stehen Krüge mit Hahnenwasser und stapelweise Gläser bereit.
Die «Speiseanstalt der Untern Stadt Bern», wie sie offiziell heisst, ist eigentlich ein Anachronismus: Sie wurde 1877 gegründet, um gemäss den ersten Statuten «der hilfsbedürftigen Bevölkerung während der Winterszeit gesunde Nahrung zu vorteilhaftem Preis anzubieten». Doch heute ist die «hilfsbedürftige Bevölkerung» weitergezogen, die untere Altstadt beherbergt vorwiegend eine Klientel, welche sich das hohe Mietzinsniveau leisten kann. Heute richtet sich das Angebot der Spysi primär an «Lehrlinge, Studenten, Alleinstehende, Arbeitslose und Pensionierte». Doch die Spysi-Wirtinnen heissen jedermann und -frau willkommen: «Wir bedienen auch gerne weitere Gäste, welche uns eine bessere Auslastung der Infrastruktur ermöglichen», schreiben sie auf der Spysi-Internetseite. Bis heute habe sich keine Einschränkung des Benützerkreises aufgedrängt. Getragen wird die Spysi von sechs Stadtberner Leisten.
Die Gäste suchen sich freie Plätze, legen ihre farbigen Essensbons auf die Tische – und prompt kommt eine der Seniorinnen herbeigeeilt, welche in der Spysi ehrenamtlich servieren. Mit einer ungespielten Freude ob der zusätzlichen Gäste reisst sie die Bons entzwei und bringt sogleich die im Menu inbegriffene Suppe. Heute ist es eine schmackhafte «Kräutersuppe», welche auch Reiskörner enthält. Dabei könnte es sich um eine – durchaus legitime – Resteverwertung vom Vortag handeln: Es gab laut Menüplan Chili con Carne im Reisring.
Auf die Tagessuppe folgt bald der Hauptgang: Bratwurst mit Zwiebelsauce und Pommes frites, dazu ein grüner Salat. In der vegetarischen Variante gibts heute das Gleiche mit einem Gemüseburger anstatt der Bratwurst. Während die Zwiebelsauce einen rauchigen Geschmack trägt, wie man ihn von Fertigmischungen kennt, gehören die Pommes frites zu den besten, die man in der Stadt erhält: leicht knusprig, gut gesalzen und leicht gewürzt. Die Bratwurst und der Gemüseburger hingegen halten schlicht, was sie versprechen.
Auf das Tagesdessert – Meringue mit Rahm für 3 Franken – wird heute verzichtet. Die vor einigen Wochen aufgetischten Ringe Dosenananas mit Himbeersirup waren eine etwas allzu süsse Geschmacksexplosion.
Während der Blick auf den schmucken roten Streifen an der Saalwand fällt, welcher weisse Silhouetten von Gläsern, Pfannen und Gedecken trägt, füllen die älteren Frauen mit ihren rosaroten Backen emsig Wasserkrüge und Brotkörbchen nach, halten dann wieder einen Schwatz mit Stammgästen. Man wünschte sich diese Arbeitshaltung bei vielen Kellnerinnen und Kellnern der zur Mittagszeit überlaufenen Berner Restaurants.
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