Der Nullmeridian der Stadtberner Politik
Die Reitschule ist in ihren 30 Jahren zu einem vieldeutigen Symbol geworden.

Dreissig Jahre nach ihrer Eröffnung kann sich niemand mehr die Stadt Bern ohne Reitschule vorstellen. Selbst die SVP hat sich vor ein paar Jahren von der Plattwalz-Rhetorik verabschiedet. Symbolisch dafür steht die letzten Sommer eingereichte sechste Anti-Reitschul-Initiative, die sich gegen die Sanierung der Lüftung in der Grossen Halle richtet. Es wäre aber falsch, daraus zu schliessen, dass die SVP damit der grössten Party- und Kulturmeile Berns erneut die Luft abdrehen will. Die Absurdität der Initiative zeigt vielmehr, dass es in der Debatte rund um das autonome Zentrum schon lange nicht mehr um Inhalte geht, sondern um die Konfrontation an sich.
Ja, nicht nur die SVP braucht die Reitschule, die Stadt Bern braucht die Reitschule. Das Kulturzentrum ist weit über die Stadtgrenzen hinaus zu einem Bezugspunkt für breite Bevölkerungsschichten geworden, auch wenn diese noch nie einen Fuss ins Gebäude gesetzt haben. Und dies nicht «nur» deshalb, weil die Reitschule für eine zunehmend entpolitisierte Mainstream-Jugend zum grössten Jugend- und Kulturzentrum zwischen Alpen und Jurabogen geworden ist. Sondern weil die Reitschule zu einer Art Nullmeridian der Gesellschaft geworden ist. In Basel ist die Haltung zur chemischen Industrie wichtig, in Zürich geht es um den Bankenplatz. In Bern geht es um die Reitschule. Sie ist zwar kein Symbol für ökonomische Dynamik, aber ein Symbol einer kulturellen Unrast.
Die Frage nach der Haltung zur Reitschule ist schon lange nicht mehr eine Exklusivität der Politik. Es ist eine Frage, die an Stammtischen, Vereinsanlässen und Familienfeiern immer wieder aufflammt. Die Reitschule wird dabei zur Chiffre für den Umgang mit Kontrolle und Freiraum, mit dem Planbaren und dem Unplanbaren, mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und der Angst vor Gewalt. Dies bringt für viele die unangenehme Erkenntnis mit sich, dass im Leben nicht alles immer bis ins letzte Detail vorhersehbar ist.
So ist es kein Zufall, dass just in der Verwaltungsstadt Bern das letzte Zentrum aus der Zeit der Jugendbewegung der 1980er-Jahre erhalten geblieben ist. Auf Aussenstehende wirkt das Gebäude wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche, wie ein leicht verstaubter Fremdkörper in einer doch recht sauberen Stadt. Andernorts würde auf einem Areal an dieser Lage längst ein rentabler Wohn- und Geschäftskomplex stehen. In Bern aber ist die Nachfrage nach der Antiquität Reitschule ungebrochen: Weil die Reitschule ein gesellschaftlicher Spiegel ist, in dem Bevölkerung und Politik sich immer wieder ihrer selbst vergewissern müssen.
Für die Jugend ist die Reitschule ein Ort zum Bier trinken und skaten geworden. Ist das Kulturzentrum eigentlich zu Berns grösstem Jugendtreff geworden? Hat Sie an politischer Bedeutung verloren? Diskutieren Sie mit auf unserer neuen Community-Plattform «Stadtgespräch». (Der Bund)
Erstellt: 30.10.2017, 07:00 Uhr
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