Bern prüft Rehabilitierung administrativ Versorgter
«Niemand will sich entschuldigen bei den Frauen, die als unschuldige Jugendliche in der Strafanstalt interniert wurden. Der Bund verweist auf die Kantone, diese halten sich für machtlos», schrieb der «Beobachter» Anfang September. Die gleiche Zeitschrift berichtete 2008 über das dunkle Kapitel der sogenannt administrativ Versorgten – ein Stück Schweizer Sozialgeschichte, das bis dahin kaum bekannt war. Betroffene Frauen kamen zu Wort (vergleiche «Bund» 9. Juni 2009), wie etwa die 59-jährige Ursula Biondi. Sie wurde als schwangere 17-Jährige von der Zürcher Amtsvormundschaft für ein Jahr hinter Gitter des Frauengefängnisses Hindelbank gesteckt, ohne ein Verbrechen begangen zu haben und ohne jemals verurteilt worden zu sein. So erging es bis in die 1980er-Jahre Zehntausenden von Jugendlichen, weil sie schwer erziehbar waren oder ihr Lebenswandel den Eltern oder Behörden nicht passte. «Es nützt uns nichts, wenn man uns heute entgegenhält, minderjährig schwanger zu sein oder im Konkubinat zu leben, sei nicht mehr anstössig oder gar verboten, und in den Erziehungsheimen könnten sich die Jugendlichen entfalten», sagt Biondi. Es sei für die Betroffenen blanker Hohn, wenn Leute, die heute in selbstverständlicher Freiheit lebten, mit dem Finger auf sie zeigten, weil sie angeblich im Gefängnis gewesen seien.
Nun will der Kanton Bern aktiv werden. «Mit diesen Leuten wurde unanständig umgegangen», sagt der kantonale Justizdirektor Christoph Neuhaus (svp). Er lasse zurzeit durch den Rechtsdienst seiner Direktion prüfen, wie es mit einer Staatshaftung aussehe. Es gehe darum, die Rechtsprechung bezüglich Schadenersatzklagen zu klären.
Bund und Kantone sind pflichtig
Der Kanton prüfe ihr Begehren um moralische Rehabilitierung, er möchte aber nicht im Alleingang vorpreschen, sondern koordiniert mit den anderen Kantonen vorgehen, sagt Biondi. Sie kämpft zusammen mit anderen Frauen für eine Entschuldigung. Ihr Anliegen haben sie unter anderem auch in Bundesbern vorgebracht. «Wir haben nie Geld gefordert für das Unrecht, das man uns angetan hat. Wir wollen aber eine offizielle und öffentliche Entschuldigung», sagt Biondi. Darauf dürfte schliesslich auch Neuhaus' Bestreben hinauslaufen. Doch wer sich entschuldigen soll, darüber herrschen unterschiedliche Auffassungen. «Eine allfällige Wiedergutmachung oder Umbenennung von Anstalten ist Sache der Kantone», schreibt der Bundesrat in der Antwort auf eine Interpellation. Die Zürcher Nationalrätin Jacqueline Fehr (sp) wollte wissen, welche Möglichkeiten bestünden, den Betroffenen eine moralische Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Die Diskussion im Nationalrat ist noch ausstehend. «Der Bund hat die gesetzlichen Grundlagen für die administrativen Versorgungen gelegt, die Kantone haben diese vollzogen. Beide sind verantwortlich», sagt Biondi. Sie würde aber hoffen, dass Bern auch den Mut habe, sich als einziger Kanton zu entschuldigen, falls eine Koordination mit anderen Kantonen zu Verzögerungen führe.
Nicht die gleichen Fehler machen
Dass zwischen Bund und Kantonen der schwarze Peter hin- und hergeschoben wird und sich schliesslich gar niemand dafür verantwortlich fühlen will, möchte Neuhaus vermeiden. «Die Sorge ist, dass der Staat in eine Auseinandersetzung gerät», sagt Neuhaus. Der Streit etwa um die Aufarbeitung der Geschichte der Verdingkinder soll sich nicht wiederholen. Der Kanton Bern wollte damals weder eine bernische Aufarbeitung an die Hand nehmen noch eine laufende Nationalfondsstudie finanziell unterstützen. Der Grosse Rat war damit nicht einverstanden und forderte 2006 die Aufarbeitung dieses «düsteren Kapitels». Diese Arbeit aber dauert seither an.
In Belangen administrativ Versorgte sei eine Klage eingereicht worden, sagt Neuhaus. Davon wissen Biondi und ihre Mitstreiterinnen nichts. Neuhaus scheint aber auch persönlich an einer Aufarbeitung der administrativ Versorgten interessiert zu sein. «Ich hatte selber eine Verwandte, die als Schwangere abgeführt und eingesperrt wurde», sagt er. Quer durch die Schweiz steckten Behörden Jugendliche in Gefängnisse. Besonders betroffen ist der Kanton Bern, weil sich das Frauengefängnis in Hindelbank befindet. Zwischen 1942 und 1981 sind allein im Kanton Bern 2700 Personen administrativ versorgt worden. Dies sagt die Historikerin Tanja Rietmann, die für eine Dissertation die Situation im Kanton Bern untersucht. Diese historische Aufarbeitung sei wichtig, weil sie über den Einzelfall hinaus zeige, wie menschenverachtend die damaligen Behörden vorgegangen seien, sagt Biondi. Im Kanton Bern seien 319 Institutionen mit dem Vormundschaftswesen betraut, weil dieses in der Schweiz kommunal geregelt sei, erklärt Neuhaus. Das erschwere eine Aufarbeitung sehr. Eine umfassende Aufklärung würde Jahre dauern.
In 20 Jahren ist zu spät
«Die Frauen werden älter, die Jahre laufen ihnen quasi davon», sagt Regierungsrat Neuhaus. Eine Wiedergutmachung bringe nichts mehr, wenn die Betroffenen nicht mehr leben würden. Denn die Frauen lebten mit den Stigmata, in einer Vollzugsanstalt gewesen zu sein. «Wie soll ich erklären, dass ich im grössten Frauengefängnis der Schweiz sass – und doch keine Strafgefangene war?», fragte Biondi im «Beobachter». Im Prinzip stünden sie im juristischen Niemandsland, und theoretisch dürfte es sie gar nicht geben. «Doch wir sind da», sagt Biondi. «Wenn wir in 20 Jahren mit Pomp rehabilitiert werden, nützt uns dies im praktischen Sinne nichts mehr», sagt Biondi.
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