«Wir Iraner wissen nicht genau, was passiert ist»
Wie blickt man in Teheran auf den Konflikt mit den USA? Gespräch mit einem Iraner, der weder seiner Regierung noch dem Westen glaubt.

Der Autor dieses Interviews reiste Ende 2015 während sieben Wochen durch den Iran, wobei er Saleh Teherani persönlich kennen lernte. Teherani studierte damals Elektrotechnik an der renommierten Sharif-Universität in Teheran, heute arbeitet er für ein Unternehmen, das Windturbinen herstellt. Der 35-Jährige gehört zu der jungen Generation, die nach der Revolution 1979 geboren ist und rund zwei Drittel der Bevölkerung ausmacht. Das Interview führte Teherani via Whatsapp aus einem Skiresort im Alborz-Gebirge nördlich von Teheran.

Im Irak detonierten iranische Bomben auf zwei US-Stützpunkten, und du gehst Ski fahren. Hattest du keine Angst vor einem Vergeltungsschlag?
Nicht wirklich. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass uns die USA innerhalb des eigenen Territoriums angreifen würden. Ich ging davon aus, dass sie vom Angriff auf kaltem Fuss erwischt wurden und nicht sofort reagieren.
Wie ist die Stimmung in Teheran, nachdem US-Präsident Trump erklärt hat, er wolle keine Vergeltungsschläge?
Bis auf einige Hardliner sind eigentlich alle erleichtert, dass sich die Situation nun offenbar entspannt. Viele reagierten aber auch ungläubig auf die Aussage, denn das iranische Staatsfernsehen sprach zuvor von mindestens 80 Toten. Wir wissen also nicht genau, was passiert ist. Ich persönlich glaube, beide Seiten drehen die Zahlen in ihrem Interesse ins Extreme. Wahrscheinlich werden wir in einigen Tagen mehr wissen.
Die Raketen der Revolutionsgarden sind üblicherweise relativ treffsicher. Hältst du es für möglich, dass das Militär absichtlich daneben schoss, um das Gesicht zu wahren, gleichzeitig aber eine weitere Eskalation zu vermeiden?
Wenn es tatsächlich zutrifft, dass beim Angriff keine US-Soldaten getötet wurden, dann ist das gut möglich. In einem Sammeltaxi erzählte jemand, dass die Iraner die Amerikaner vor dem Angriff sogar gewarnt haben sollen. Ich halte das aber für eine Verschwörungstheorie. Ich gehe davon aus, dass es Tote gab.
Am Morgen des Raketenangriffs stürzte in Teheran ein ukrainisches Flugzeug ab. Westliche Geheimdienste gehen nun davon aus, dass es von einer iranischen Rakete getroffen wurde. Für wie wahrscheinlich hältst du das?
Ich halte das für äusserst unwahrscheinlich, denn das Flugzeug stürzte über einem dicht besiedelten Gebiet ab, weshalb Augenzeugen die Explosion hätten sehen müssen. Ich glaube eher, dass es sich um eine Propaganda-Aktion des Westens handelt, die von der Tötung des iranischen Generals Qassim Soleimani ablenken soll, die ein Kriegsakt durch die USA darstellt. So viel ich weiss, haben die Geheimdienste bisher keine Beweise vorgelegt – sie zitieren sich bloss gegenseitig.
Hast du an Soleimanis Trauerfeier in Teheran teilgenommen?
Ja, ich bin mit Freunden hingegangen. Es war verrückt, noch nie hatten sich in Teheran so viele Menschen versammelt – nicht einmal während der Grünen Protestbewegung nach Ahmadinejads Wiederwahl 2009, an der ich ebenfalls teilgenommen hatte. Es hatte so viele Leute, dass wir nicht einmal den ganzen Weg der Prozession gehen konnten.
Im Westen war Soleimani bisher relativ unbekannt. Im Iran soll er jedoch sehr beliebt gewesen sein. Auch unter den jungen Leuten?
Absolut, insbesondere bei den ärmeren Leuten war Soleimani sehr beliebt, er bot breiten Schichten der Nation ein Identifikationspotenzial, da er keiner politischen Partei angehörte.
Wie war die Stimmung während der Trauerfeier?
Es herrschte ein starkes Gefühl der Solidarität. Und es nahmen erstaunlich viele Frauen daran teil. Ich hatte sogar den Eindruck, dass es mehr Frauen als Männer hatte. Ich nutzte die Chance und habe ein kleines Transparent gemalt, auf dem ich das Ende der Hidschab-Pflicht forderte.

Wie reagierten die Leute darauf?
Ich hatte den Eindruck, es war ihnen egal. Normalerweise hätten sich viele darüber aufgeregt, aber an diesem Tag versuchten die Leute, die Einheit zu wahren.
Noch vor wenigen Wochen kam es im Iran zu landesweiten Protesten, weil die Regierung die Preise für Treibstoffe erhöht hatte. Wie wirkt sich der aktuelle Konflikt mit den USA auf den Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung aus?
Eine äussere Bedrohung stärkt in aller Regel den inneren Zusammenhalt. Dies trifft auch für die Tötung Soleimanis durch die USA zu. Viele Iraner sind unzufrieden mit der Regierung. Sie ziehen jedoch eine unzulängliche, aber stabile Regierung einem Bürgerkrieg mit ungewissem Ausgang vor.
Wie stehst du persönlich zu deiner Regierung?
Ich halte nicht besonders viel von der iranischen Regierung. Die ganzen religiösen Vorschriften, die das öffentliche Leben diktieren, halte ich für überholt. Ebenso ist die Situation mit den Bürgerrechten problematisch. Gleichzeitig finde ich aber, dass Präsident Rohani und Aussenminister Sarif gegenüber dem Westen eine viel zu unterwürfige Haltung einnehmen, etwa bei den Verhandlungen über das Atomabkommen.
Wie meinst du das?
Ich war gegen das Abkommen, weil der Iran dafür viel aufgab, aber im Gegenzug nichts dafür bekam. Ich habe den Eindruck, Rohani und Sarif haben sich bei den Verhandlungen mehr für den Westen eingesetzt als für ihr eigenes Land. Sie stehen für die submissive Fraktion der Regierung, sie glauben an den Erfolg durch verhandeln und klein beigeben, aber offensichtlich funktioniert diese Strategie nicht.
Im Gegenzug lockerte der Westen doch die Sanktionen gegen den Iran?
Das wurde versprochen, ja. Aber praktisch nichts davon ist eingetroffen. Die Leute hatten damals grosse Hoffnungen, aber die Sanktionen wurden nur noch härter. Schon unter Obama wurde es für westliche Touristen und Geschäftsleute, die den Iran besuchten, fast unmöglich, ein Visa für die USA zu erhalten. Man stellte die Menschen vor die Entscheidung: Iran oder USA.
War es demnach gut, dass Trump aus dem Atomabkommen ausgestiegen ist?
Trump tat das Richtige für die USA. Sie bekamen, was sie wollten: Die nuklearen Aktivitäten im Iran wurden eingestellt, und als die USA dran waren, ihren Teil der Abmachung einzulösen, taten sie es schlicht nicht. Einfach weil sie konnten. So funktioniert die Welt. Es ist naiv zu glauben, es gebe so etwas wie Gerechtigkeit. Wenn du Macht besitzt, kannst du machen, was dir passt, und wenn du schwach bist, wirst du ausgenutzt. Leider hat das unsere feige Regierung noch nicht begriffen.
Einige junge Iraner möchten den Iran aus politischen Gründen verlassen. Auch du?
Ich glaube nicht, dass die jungen Iraner das Land aus politischen Gründen verlassen, sondern wegen ökonomischen und religiösen Gründen wie der Hidschab-Pflicht, der sozialen Ungleichheit und der Korruption. Ich bin schon viel gereist, war in Europa und lebte eine Weile in Kanada. Trotzdem könnte ich mir nicht vorstellen, für immer auszuwandern. Mein Herz gehört dem Iran. Wenn sich die Situation verschlechtern würde und meiner Familie und meinen Freunden etwas zustossen würde, könnte ich mir niemals verzeihen, nicht für sie da gewesen zu sein.
Wie sieht die Zukunft für den Iran aus?
Es liegt ein langer Weg vor uns. Durch die angespannte Situation mit den USA haben gerade wieder die Hardliner Aufwind, die sich für religiöse Dogmen und eine Beschneidung der Bürgerrechte einsetzen. Das grösste Problem im Iran ist jedoch die Korruption, die auf allen Ebenen grassiert. Leider scheint unsere Regierung aber keine Langzeitstrategie zu haben. In der Revolutionsgarde gibt es Generäle mit Weitsicht, aber in den Ministerien herrscht absolute Improvisation. Da gibt es ironischerweise eine Parallele zur Trump-Administration, die ihre Entscheide ebenfalls eher impulsiv zu treffen scheint.
Trump drohte damit, 52 Ziele – darunter wichtige Kulturstätten – ins Visier zu nehmen. Wie kam diese Drohung bei der iranischen Bevölkerung an?
Der US-Präsident ist nicht einmal ein guter Bluffer. Wenn du bluffst, musst du schon realistisch bleiben. Hätte Trump gesagt, er nehme 52 Militärstützpunkte ins Visier, hätten einige Regimekritiker wohl sogar noch applaudiert. Aber auf mich wirkt das einfach wie die Aussage von einem Typen, der versucht, einen Fehler durch weitere Fehler zu verstecken.
Nach der Tötung des Revolutionsgarde-Generals Qassim Soleimani drohte der Iran mit massiver Vergeltung. Wars das jetzt, oder kommt da noch mehr?
Ich hoffe nicht. Der Angriff war immerhin stark genug, um Trumps 52-Kulturstätten-Rhetorik in ein Friedensangebot umzuwandeln.
Trump forderte den Iran in seiner Rede zu weiteren Verhandlungen auf und betonte gemeinsame Interessen, wie die Bekämpfung des IS. Wie steht man im Iran dazu?
Verhandlungen und Diplomatie sind generell wichtig, um internationale Beziehungen zu pflegen. Was man jedoch nicht vergessen darf, ist, dass die Partei, die mehr Militärmacht auf dem Boden hat, automatisch mehr Verhandlungsmacht am Tisch besitzt. Die Fundamentalisten fordern daher, Verhandlungen erst dann aufzunehmen, wenn wir militärisch auf Augenhöhe mit den USA stehen. Ansonsten sei das keine Verhandlung, sondern eine Kapitulation. Die Reformisten hingegen glauben an die Macht diplomatischer Instrumente. Diese beiden Lager sind in der politischen Arena etwa gleich stark vertreten.
Trump forderte in diesem Zusammenhang den Iran auf, sich wie ein normales Land zu verhalten und auf Provokationen künftig zu verzichten. Wieso tut der Iran das nicht?
Nun, der Iran ist kein normales Land. Für Länder wie die Schweiz mag Diplomatie der richtige Weg sein, aber die Geschichte hat gezeigt, dass Grossmächte den Iran aufgrund seiner geostrategischen Bedeutung immer wieder versucht haben zu erobern. Das fing vor über 2000 Jahren mit Alexander dem Grossen an, danach kamen die Araber, die Mongolen und Afghanen. Später dann die Portugiesen, die Briten, die Russen und nun sind es die Amerikaner. Jedes Mal, wenn der Iran militärisch schwach war, versuchten fremde Mächte sich einzumischen.
Inwiefern mischt sich Amerika denn in die Politik des Iran ein?
Amerikanische Hardliner wie der ehemalige Sicherheitsberater John Bolton sprechen offen über einen Regime-Change, der im Iran herbeizuführen sei. Im Iran fürchten sich deshalb viele Menschen vor einem Bürgerkrieg, wie er in Syrien oder in Libyen tobt.
Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?
Es wäre nicht das erste Mal, dass der Westen die politischen Geschicke des Iran beeinflussen würde. 1953 etwa wurde der demokratisch gewählte iranische Präsident Mossadegh durch die CIA und den britischen Geheimdienst MI6 gestürzt, nachdem dieser die iranische Ölindustrie verstaatlicht hatte, die zuvor von British Petroleum (BP) kontrolliert wurde. Und auch die Islamische Revolution von 1979, die die Herrschaft des Schahs durch jene des Ayatollahs ersetzte, wäre ohne die Unterstützung des Westens wohl nicht geglückt – oder zumindest weniger schnell erfolgt. Und auch im ersten Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran unterstützten die USA Saddam Husseins Truppen massiv mit militärischer und geheimdienstlicher Hilfe.
Der Westen unterstützte die Islamische Revolution?
Die Amerikaner und die Briten installierten nach dem Sturz Mossadeghs den Schah, weil sie dachten, er sei jung und unerfahren und einfach zu kontrollieren. Doch als er nationalistische Tendenzen entwickelte, musste auch er gestürzt werden. Im Iran glauben viele Regierungskritiker, dass der Ayatollah vom Westen unterstützt wurde, weil man davon ausging, dass eine muslimische Regierung korrupt und ineffektiv und dadurch leichter zu manipulieren sei.
Weshalb versucht der Westen denn, die Politik des Iran zu beeinflussen? Worin liegt die geostrategische Bedeutung des Landes?
Der Iran liegt in der Mitte des Eurasischen Kontinents. Er ist quasi die Drehtür der alten Welt. Wenn du von Afrika nach China oder von Europa nach Indien wolltest, führte kein Weg am Iran vorbei. Zudem gibt es hier massive Ölvorkommen. Für uns Iraner am wichtigsten ist jedoch die kulturhistorische Komponente. Diese Region ist die Wiege der Zivilisation. Die ersten Kulturen, Sprachen und Religionen entstanden hier. Seit dem Kolonialismus beansprucht jedoch der Westen, Zivilisation und Kultur für sich gepachtet zu haben. Vielleicht ist der Iran dem Westen auch deshalb ein Dorn im Auge, weil er ihm diesen Anspruch streitig macht.
Aber Mesopotamien liegt doch nicht im Iran, sondern im heutigen Syrien und Irak?
Die Grenzen dieser Nationalstaaten sind relativ jung und wurden willkürlich von Frankreich und England gezogen, um diesen Kulturraum zu zerteilen und die neuen Länder gegeneinander aufzuhetzen. Divide et impera. Ein grosser Teil des Mittleren Ostens war zuvor während Jahrtausenden ein einziger gemeinsamer Kulturraum. So war unter den Sassaniden Bagdad die Hauptstadt des Persischen Reiches – und nicht Teheran.
Der Iran beklagt sich über ausländische Interventionen. Gleichzeitig interveniert er aber selber in Ländern wie Jemen, Irak, Syrien und Libanon, indem er schiitische Milizen unterstützt. Das ist doch ein Widerspruch!
Das stimmt, der Iran sieht sich als schiitische Schutz- und regionale Ordnungsmacht. Anders als den USA geht es ihm aber darum, ein Kräftegleichgewicht herzustellen – und nicht, Chaos zu verbreiten.
Wenn der Iran im Jemen Huthi-Rebellen unterstützt, verbreitet er doch auch Chaos?
Die Huthi stellen die Mehrheit der Bevölkerung und gewannen die Wahlen. Es war die prosaudische Regierung, die nach der Wahlniederlage die Macht nicht an die Huthi abgeben wollte. So gesehen, unterstützt der Iran die lokale Bevölkerung, die von der Regierung bloss unterdrückt werden kann, weil sie einen Deal mit den Saudis geschlossen hat.
Was müsste passieren, damit im Mittleren Osten Frieden einkehrt?
Die Geschichte hat gezeigt, dass Phasen des Friedens in der Region meist mit einer starken und geeinten iranischen Regierung einhergingen. Für den Iran liegt der einzige Weg darin, stark genug zu werden, um ausländische Interventionen und Drohungen erfolgreich abzuschrecken. Ich glaube, dass der iranische Raketenangriff auf die US-Militärbasen dazu beigetragen hat, dass Trump seinen Ansatz änderte und nun auf Verhandlungen statt weitere Drohgebärden setzt.
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