Arbeit in Russland – Segen und Fluch
Seit sich die einstige Sowjetrepublik Tadschikistan 1991 für unabhängig erklärt hat, suchen immer mehr Tadschiken in Russland Arbeit. Dort macht ihnen die Fremdenfeindlichkeit zu schaffen, in der Heimat ist die männerlose Gesellschaft ein grosses Problem.
Lässt Alidod Baudschanbe sein Jahrzehnt in Russland Revue passieren, ist der gelernte Strassenbauer sehr zufrieden. Seit Baudschanbe 1997 auf der Suche nach Arbeit aus Tadschikistan nach Moskau kam, kletterte er die Karriereleiter stetig nach oben. Zunächst schlief er in leer stehenden Kellern und bekam als Handlager höchstens ein paar Hundert Euro im Monat. Jetzt arbeitet der 38-jährige Baudschanbe als Polier mit eigener Brigade und nimmt vor allem private Aufträge an. Der letzte, ein Hausbau in Moskau, brachte ihm für sechs Monate Arbeit und umgerechnet 17 000 Euro ein. «Russland ist gut zu mir gewesen», sagt er. In Moskau lebt Baudschanbe mit drei Verwandten in zwei kleinen Zimmern. In Tadschikistans Hauptstadt Duschanbe hat er für seine Frau und die beiden Kinder vor sechs Jahren eine Dreizimmerwohnung, für 1150 Euro gekauft und aufwendig renoviert. Heute ist sie 55 000 Euro wert. In seinem Heimatdorf Schod im Pamirgebirge, 500 Kilometer östlich von Duschanbe, gehört Baudschanbe ein Grundstück. Später will er hier ein Haus bauen. «Nach meiner Lehrzeit in Russland kann ich es vom Fundament bis zum Dach alleine bauen», sagt er. Einem Bruder hat er kürzlich die Hochzeit bezahlt, einem anderen hilft er, damit er in Tadschikistan mit seinem Lohn von umgerechnet 20 Euro über die Runden kommt. Seinem Vater hat Alidod einen chinesischen Minibus gekauft. Mit dem fährt dieser jetzt andere Bergbewohner zum Markt und bessert die Rente auf. 700 000 arbeiten in Russland Alidod weilt im Dezember zu Besuch bei der Familie in Duschanbe. An einem Abend trifft er in einem neu eröffneten türkischen Restaurant seine Cousine Aslibegim. Sie kommt aus dem gleichen Dorf. Von ihren sechs Brüder und Schwestern sind vier ebenfalls in Russland. Als die beiden alle in Moskau, Petersburg oder Jekaterinburg arbeitenden Verwandten aufschreiben, stehen schliesslich über 100 Namen auf der Liste. «Wir sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel», sagen Alidod und Aslibegim. «Es gibt keine tadschikische Familie, von der niemand in Russland arbeitet.» Laut der Migrationsforscherin Saodat Olimowa arbeiten von knapp sieben Millionen Tadschiken 700 000 als Gastarbeiter in Russland. Dazu kommen mindestens 100 000, die seit dem Jahr 2000 die russische Staatsbürgerschaft bekommen und sich dauerhaft in Russland niedergelassen haben. Aus Russland überwiesen die Tadschiken ihren Familien im vergangenen Jahr weit über 2 Milliarden Dollar – das Dreifache des Staatshaushaltes. Der beläuft sich im ärmsten Land Zentralasiens auf knapp 700 Millionen Dollar. «Ohne das Geld der Gastarbeiter würde Tadschikistan sofort zusammenbrechen», sagt Hodschamahmat Umarow vom Institut für Wirtschaftsforschung in Duschanbe. Auch zu Sowjetzeiten war das Land arm. Moskau holte sich vor allem Baumwolle, Gemüse und Früchte aus Tadschikistan, gründete aber auch einige Fabriken. «Zu Sowjetzeiten hatte unsere Industrie 540 000 Arbeitsplätze», sagt Umarow. «Heute sind von diesen noch 70 000 übrig.» Zu Sowjetzeiten reichte selbst Baumwollpflückern ihr Gehalt zum Leben. Heute beträgt das Durchschnittsgehalt gerade 190 Somoni, umgerechnet 43 Euro. «Ein Sack Mehl kostet über die Hälfte dieses Gehalts», sagt Anwar Babajew von der Staatsagentur für Migrantenbetreuung. «Deshalb gehen die Männer weiter nach Russland.» Dort arbeiten Tadschiken auf dem Bau und dem Markt, in Fabriken, als Busfahrer oder Kellner. Meist werden sie schlechter bezahlt als Russen, oft um ihren Lohn betrogen – vielfach von Zwischenhändlern und eigenen Landsleuten. Dschamsche Salimow arbeitete im zentralrussischen Jaroslawl in einem Eisenbetonwerk. Statt wie versprochen 700 Euro bekam er am Monatsende nur 450 Euro ausgezahlt. Einmal betrog ihn ein tadschikischer Vorarbeiter gar um zwei Drittel des Lohns. Im April kehrte Salimow nach Tadschikistan zurück, nun arbeitet er als Handwerker in einer Klinik. 118 rassistische MordeRussland, bei schrumpfender Bevölkerung zunehmend auf Gastarbeiter angewiesen, braucht die billigen Arbeitskräfte aus Tadschikistan – geliebt werden sie aber nicht . Alidod Baudschanbe, der gut verdienende Polier, begleitet in Moskau ständig die Angst. «An russischen Feiertagen oder Hitlers Geburtstag verlassen wir das Haus nicht.» Alidod und seine Landsleute fahren nach Einbruch der Dunkelheit nicht mit Vorortzügen: Skinheads könnten sie aus dem Zug werfen. Sie meiden auch die notorisch fremdenfeindliche Polizei. Fährt Alidod ins Zentrum, leiht er sich bei seiner Cousine eines ihrer kleinen Kinder aus: «Die Polizisten lassen uns in Ruhe, wenn Kinder dabei sind.» Ein 22 Jahre alter Nachbar im Dorf Alidods wurde trotz aller Vorsicht von Skinheads ermordet. Der letzte bekannt gewordene Mord sorgte am 8. Dezember für Schlagzeilen. Skinheads der «Kampforganisation russischer Nationalisten» ermordeten in Moskau einen im Gemüsehandel als Packer arbeitenden Tadschiken mit sechs Messerstichen in den Rücken und schnitten der Leiche den Kopf ab. Das Moskauer Büro für Menschenrechte zählte in Russland im vergangenen Jahr 118 rassistische Morde. Trotz allen Härten beginnen viele Tadschiken in Russland ein neues Leben. Die Psychologin Ibodat Mirsojewa traf vor Kurzem auf dem Flug von Duschanbe nach Jekaterinburg 117 Männer – alle nach Russland zurückkehrende tadschikische Gastarbeiter. «Ich kam mit den Männern ins Gespräch. Viele sagten, sie kehrten gern nach Russland zurück», erzählt sie. «In Jekaterinburg wurden fast alle von Russinnen mit entzückten ,Mischa‘ oder ,Sascha‘-Rufen begrüsst», berichtet Mirsojewa. «Ihr Leben in Russland entfremdet die Gastarbeiter ihrer Heimat – und ihren Familien.» Scheidung per Telefon Im Süden Tadschikistans, einer kargen Gegend mit braunen Steppen, sind an einem Dezembermorgen neun Frauen vom Land ins Städtchen Kurgan-Tjube gekommen. Ihren Männern, Schwiegervätern oder Brüdern, die im muslimischen Tadschikistan die Frauen beaufsichtigen, haben sie gesagt, dass sie zum Einkaufen auf den Markt fahren. Jetzt sitzen sie im Büro der Frauenhilfsorganisation Dilafrus und schütten ihr Herz aus. Aziza Churbanowa ahnte, dass ihr Mann Nuriddin eine andere Frau in Russland hatte. Vier Jahre lang kam er nicht nach Hause. Der 2002 geborene Sohn Kadridin wusste nicht, wie der Vater aussah. Bei Nuriddins einzigem Besuch wurde Aziza wieder schwanger. Im vierten Monat der Schwangerschaft rief Nuriddin sie aus Russland an. Drei Mal sprach er die islamische Scheidungsformel «Talak» («Ich verstosse dich») aus. Der Mullah in Dorf bestätigte Aziza, die Ehe sei damit geschieden. Solche Scheidungen per Telefon seien zunehmend ein gesellschaftliches Problem, heisst es beim Frauenkomitee der tadschikischen Regierung. Führende Mullahs erkennen eine Scheidung auch an, wenn sie per SMS ausgesprochen wurde. Nur die wenigen Frauen, deren Ehen auch standesamtlich registriert sind, können eine einseitige Scheidung durch den Mann verweigern. Mochpotscho Dawlatowas Mann zog zu seinem Bruder nach Russland, weil der dort ein kleines Geschäft hat. Als der Bruder starb, wollte Alomedin die Witwe heiraten und das Geschäft übernehmen. Er kehrte nach Tadschikistan zurück und forderte die 25-jährige Mochpotscho auf, die standesamtlich registrierte Ehe scheiden zu lassen und ihm die beiden Kinder zu übergeben. Mochpotscho weigerte sich. Um sie zur Scheidung zu zwingen, schlug Alomedin seine Frau fast täglich. «Wenn du mich weiter quälst, überschütte ich mich mit Benzin und zünde mich an», sagte Mochpotscho zu ihrem Mann. «Geh – zünd dich an», sagte ihre Mann, wie Mochpotschos Vater bei der Staatsanwaltschaft aussagte. Am 22. November 2007 schritt die verzweifelte Mochpotscho zur Tat. Sie starb einen Tag später. Ihr Mann lebt heute unbehelligt in Russland. Präsident beherrscht Wirtschaft«Frauen hatten es nie einfach in Tadschikistan», sagt Murdschona Churbanowa, die Mutter von Aziza. «Aber bevor unseren Männer Russland offen stand, konnten sie ihre Frauen nicht wie Abfall wegwerfen, ohne im Heimatdorf das Gesicht zu verlieren.» Die Abwesenheit der Männer führt nicht nur zu persönlichen Tragödien. «Unsere leistungsfähigsten jungen Männer sind in Russland», sagt Wirtschaftsforscher Umarow. «Zehntausende Hektaren Land liegen brach. Auf den bewirtschafteten Feldern arbeiten Kinder, Frauen und Greise. Die Ernten gehen ständig zurück.» In der Nähe Kurgan-Tjubes glänzen auf ausgetrockneten Feldern Salzkrusten. Früher wuchsen hier Reis und Reben. Ein weiters Problem Tadschikistans ist die massive Korruption. Fast alle einträglichen Wirtschaftszweige werden vom Clan des seit 1992 herrschenden Präsidenten Emomali Rachmonoff kontrolliert. «Tadschikistan überlebt dank dem Geld der Gastarbeiter – doch der Preis ist hoch», sagt Migrationsforscherin Saodat Olimowa. «Das Geld führt dazu, dass bei uns eine Art mittelalterliches Sultanat ohne Reformen weiterbestehen kann.» Knapp die Hälfte der tadschikischen Gastarbeiter in Russland arbeitet auf dem Bau – dem von der Krise am schwersten getroffenen Wirtschaftszweig Russlands. Olimowa sagt, «alle Familien, die Wirtschaft und – über Zoll- und Steuereinnahmen – auch der Staatshaushalt hängen am Tropf der Gastarbeiter und ihren Überweisungen». Parvis Mulludschanow, Politologe in Duschanbe, warnt deshalb: «Wenn die Transfers zurückgehen oder viele Gastarbeiter arbeitslos werden und zurückkehren, wird es schnell zu einer schweren Krise kommen.» Die Nationalbank soll bereits im vergangenen November einen Rückgang der Überweisungen aus Russland um die Hälfte registriert haben. Bestätigt wird dies offiziell nicht. Wie schwer Tadschikistan die Weltwirtschaftskrise wirklich trifft, wird sich erst mit Verzögerung zeigen: im März oder April, wenn auf Russlands Baustellen gewöhnlich die Arbeit wieder beginnt und Hunderttausende Tadschiken zurückkehren möchten. Olimowa sagt, die meisten Gastarbeiter würden trotz der Krise Arbeit finden. «Russland braucht Hunderttausende billige Arbeitskräfte. Wenn nicht mehr gebaut wird, gehen unsere Männer eben in sibirische Fabriken.» Doch in Russland mehren sich die Forderungen nach weniger Gastarbeitern. Moskaus einflussreicher Stadtpräsident Juri Luschkow forderte Mitte Dezember, die Quote der Gastarbeiter in Moskau von 750 000 auf die Hälfte zu reduzieren. Kurz danach hat der Direktor der Baufirma aus Moskau seinen früheren Polier Alidod Baudschanbe in Duschanbe angerufen und erzählt, dass die gesamte Bauindustrie stillstehe. «Seine Firma hat schon im September Bankrott gemacht», sagt Baudschanbe. Er bleibt trotzdem optimistisch. «Ich habe so viel Erfahrung und in Moskau so viele Kontakte, dass ich Arbeit finden werde.» Zum Beispiel bei seinem ehemaliger Chef. Der habe beim Bankrott der Firma einiges auf die Seite geschafft, erzählt Baudschanbe. «Nun soll ich ihm helfen, endlich sein eigenes Haus zu renovieren.» >
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch