«Angeborenes Mitteilungsbedürfnis»
Weltweit gibt es Millionen von Bloggern. In Bern gehören Claude Longchamp und Andi Jacomet zu den bekanntesten.

Warum sein Privatleben auf dem Internet ausbreiten? Warum einen Blog führen? «Ich glaube, ich habe ein angeborenes Mitteilungsbedürfnis», sagt Andi Jacomet, einer der bekanntesten Blogger Berns.Der erste Eintrag auf seiner Seite stammt vom 19. April 2005. Aber eigentlich habe alles schon viel früher angefangen, sagt der Mittdreissiger. Als Fünfjähriger habe er von Hand seine erste Zeitung geschrieben; und später auf der Sekundarstufe war er bereits stolzer Herausgeber einer Schülerzeitung. «Früher nervten mich die Lehrer, heute Produkte, die ich mir kaufe.»So etwa der portable Computer, den er für 4000 Franken anschaffte. Nach wenigen Monaten im Gebrauch habe er weisse Flecken auf dem Monitor entdeckt: «Nicht gerade das, was man sich wünscht», schrieb Jacomet daraufhin in seinem Blog. Obwohl der Beitrag «Sony hat ein Problem mit seinen Laptop-Bildschirmen» schon älter ist, werde er noch heute regelmässig angeklickt, sagt er. Tatsächlich erscheint Jacomets Blog «JacoBlök» an erster Stelle, sucht jemand bei Google nach «Sony + Flecken». «Andere haben wohl ähnliche Erfahrungen gemacht», meint Jacomet.Kommentare RechtsradikalerAm Anfang von Claude Longchamps Blogger-Karriere stand ein Unfall: «Ich bin von der Uni geflogen – physisch», sagt der aus Funk und Fernsehen bekannte Meinungsforscher. Er sei aus dem Fenster gestürzt und habe dabei beide Beine gebrochen. Sport ist seither tabu für Longchamp, Bewegung aber wichtig, wie sein Hausarzt sagt. Der Historiker («Ich habe 2000 historische Bücher gelesen») hat einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden: Stadtwandern! Fast täglich macht er sich auf, um ein Gebäude zu besichtigen, eine Demonstration zu beobachten oder ein Konzert zu besuchen – stets zu Fuss. Hernach schreibt Claude Longchamp das Erlebte nieder – seit drei Jahren auf seinem Blog «Stadtwanderer».Aber warum im Internet, sodass es alle Welt lesen kann? Longchamps Antwort: «Mir gefällt die Form, sie ist dynamisch.» Es handle sich bei den Einträgen quasi um ein Abfallprodukt seiner täglichen Arbeit. Einige Geschichten würden ihm gesteckt, sagt der Meinungsforscher. Ausserdem habe er durch das Online-Tagebuch schon viele Leute kennengelernt; nur selten schlichen sich ungebetene Gäste in seinen Blog ein. Nach der Kundgebung für Bundesrätin Widmer-Schlumpf habe er mehrere Kommentare mit rechtsradikalem Tenor löschen müssen. Seine wohl prominenteste Geschichte hat er selbst recherchiert: Durch Laura Bushs Adern fliesst Blut aus Berns einstiger Patrizierfamilie von Graffenried, machte Longchamp am 14. August 2006 in seinem Blog publik. Zahlreiche etablierte Medien nahmen die Geschichte auf. Er sei schon ein wenig stolz auf die Exklusivgeschichte, kommentierte er anschliessend seinen eigenen Eintrag.Blogger-Kodex verbietet Reklame«sogar die nzz am sonntag hat als quelle für ihre geschichte den stadtwanderer zitiert», schrieb er – alles in Kleinbuchstaben. So sei halt der neue Sprachgebrauch, sagt Longchamp. Auch in E-Mails schreibe er konsequent alles klein. «Es gibt einen Haufen Leute, die sich aufregen, aber ich bleibe dabei.» Ansonsten beachte er die Rechtschreibung.Andi Jacomet ist da pingeliger: «Ich bin ein Sprachpuritaner», sagt er. Fehler seien ihm peinlich, zumal es ihm der Blogger-Kodex verbiete, solche nachträglich zu korrigieren.Ferner sei es in der Bloggerszene verpönt, Werbung auf der eigenen Seite zu platzieren, sagt Longchamp, dessen Blog täglich 600 Personen besuchen. «Ich könnte mit Reklame jährlich 10000 Franken verdienen.» Vor Kurzem nahm Longchamp indes eine Einladung von Tirol Marketing an: drei Tage Urlaub zwischen Innsbruck und Bozen. Seine publizistische Freiheit habe er aber nicht verkauft, sagt der Blogger.Jacomet, der täglich 450 Klicks auf seiner Seite registriert, handhabt das propagierte Werbetabu weniger streng: Die 500 Franken, die er pro Jahr mit Werbung verdiene, seien ein willkommener Nebenverdienst, reichten jedoch nicht einmal für ein Skiabo, sagt der Freund antiker Skilifte. Für sich und seinen Blog hat er vergangenen Winter etliche «Nostalgie-Lifte» im Kanton Bern besucht, fotografiert und darüber berichtet. «Andere begeistern sich für Eisenbahnen, ich mich halt für alte Skilifte mit Holzbügeln», sagt Jacomet. Im Weiteren schreibt der Webpublisher vornehmlich über Ferienerlebnisse (zum Beispiel über einen Biomarkt in San Francisco) und Konsumthemen: etwa über den Holunderblütensirup mit dem goldenen Drehverschluss, den die Migros aus dem Sortiment nahm, was dem Blogger nicht behagte. Ob kausal oder nicht: Wenige Monate nach seinem Blog-Eintrag stellte die Migros seinen Lieblingssirup zurück ins Regal.Man kennt sich übers InternetBlogger berichten nicht nur öffentlich über Teile ihres Privatlebens, sondern wollen auch wahrgenommen werden. Dazu sei es wichtig, dass die eigene Seite bei Google möglichst weit oben rangiere, sagen die beiden. Überdies könne man mit provokativen Titeln einiges bewirken, hat Jacomet bemerkt. Dadurch werde die eigene Seite auf dem Blogverzeichnis «Slug.ch» eher wahrgenommen. Schliesslich sei es von Vorteil, wenn auf anderen Internetseiten mit einem Link auf den eigenen Blog verwiesen wird. Der «Stadtwanderer» und Jacomet kennen sich im realen Leben nicht, im Netz hingegen sind sie verlinkt.
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