Blinder Ferrari-Optimismus Alle Schuld liegt bei Leclerc, sagt Leclerc
Der Ferrari-Pilot tut öffentlich Busse für seinen jüngsten Fahrfehler. Derweil schwadroniert sein Chef, beim GP Ungarn am Wochenende sei ein Doppelsieg das Ziel.

Charles Leclerc sass danach noch eine ganze Weile auf dem Boden. Die Arme hatte er abgestützt auf den Beinen, das Gesicht vergrub er hinter beiden Händen. Und auf seiner Stirn tat sich ein Gesichtsgebirge mit so reichlich Gipfeln und Tälern auf, wie man es vielleicht von Clint Eastwood kennt, aber höchst selten bei einem 24-Jährigen erblickt hat. Leclercs Mimik lieferte die passenden Bilder zur Tonspur, die er nach diesem Rennen auf sämtlichen Kanälen abspielte und mit der immer gleichen Botschaft wiederholte: Seht her, schuld bin ich. Ich allein.
Selten hat man in der Formel 1 einen Rennfahrer eine derartige öffentliche Bussübung vollziehen sehen wie Charles Leclerc am Sonntag nach seinem selbst verschuldeten Abflug aus «Le Beausset», einer der schnellsten Kurven auf dem Circuit Paul Ricard. «Ich zeige die besten Leistungen in meiner Karriere, aber solche Fehler sind schlimm. Ich habe im falschen Moment einen Fehler gemacht. Das ist nicht akzeptabel.»
«So etwas kann passieren», flötet der Chef
Für einen Augenblick hätte man beinahe vergessen, dass dieser sich selbst kasteiende Sünder im sündhaftesten Rennstall der Formel 1 angestellt ist: der Scuderia Ferrari. Angeführt wird sie von Mattia Binotto, einem Teamchef mit bewundernswert ausgeglichenem Gemüt und der rhetorischen Gabe, sämtliche Fehler hinfortzumoderieren. So auch diesen. «So etwas kann passieren», flötete Binotto, «selbst grossen Fahrern wie ihm, und gemeinsam haben wir ihn bereits hinter uns gelassen.» Er freue sich nun schon auf das unmittelbar anstehende Rennwochenende in Budapest. Den Fahrern habe er bereits mitgeteilt, dass dort «ein Doppelsieg das Ziel» sei.
Wie bitte? Es war der Moment, in dem jemand Signor Binotto hätte schütteln dürfen, um ihn daran zu erinnern, dass Weltmeisterschaften nicht von der Summe der Doppelsiege abhängen. Sondern von der Punktezahl des eigenen Spitzenfahrers. 63 Zähler weniger als Verstappen hat Leclerc seit Sonntag. Selbst wenn der Niederländer in den verbleibenden zehn Rennen zweimal ausfallen und zugleich Leclerc gewinnen sollte, betrüge Verstappens Vorsprung noch immer 13 Punkte.
Die Konkurrenz spendet vergiftetes Mitleid
So komfortabel ist das Polster des Niederländers, dass sich Helmut Marko, der gerne zündelnde Motorsportberater von Red Bull Racing, zu einem vergifteten Mitleid hinreissen liess. «Es ist schade, wenn in einem so tollen WM-Zweikampf immer wieder Defekte oder individuelle Fehler kommen», sagte er. «Wir freuen uns gleichzeitig natürlich über die 25 Punkte.»
Es könnte gut sein, dass man sich eines Tages an den Grossen Preis von Frankreich als an das Rennen erinnern wird, an dem Charles Leclerc den Titelkampf 2022 gegen Max Verstappen verlor. Er lag ja in Führung, als er in der 18. Runde Le Beausset zu weiträumig durchfahren wollte, ihm das Heck spazieren ging, der Ferrari sich drehte und schliesslich seine Front in einen Reifenstapel rammte.
Solche Abflüge nach Fahrfehlern brennen sich weit besser in das Gedächtnis als verpatzte Boxenstrategien – wie jene des Teams Ferrari in Monte Carlo. Oder Rennen, die der Teamkollege mit weniger Punkten gewinnt, weil die Strategen der Scuderia ihn anstelle des Titelkandidaten zum Reifenwechsel rufen – so geschehen in Silverstone, als Ferrari Carlos Sainz neue Gummis spendierte anstelle von Leclerc. Markante Patzer der Piloten wischen auch die Erinnerung an eine fahrlässig unterlassene Stallregie fort wie neulich beim Sprint im österreichischen Spielberg – als Binotto nichts unternahm, als sich Sainz und Leclerc auf der Strecke bekriegten, als sei nicht der vorneweg brausende Verstappen ihr gemeinsamer Gegner.
Fahrfehler, die jahrelang nachhängen
Sebastian Vettel weiss sehr gut, wie lang einem als ehemaligem Angestellten in Maranello ein Fahrfehler nachhängen kann. Auch vier Jahre nach seinem verpatzten Titelkampf mit der Scuderia sind die Bilder seines unnötigen Ausrutschers in der regennassen Sachskurve am Hockenheimring noch viel präsenter als die mannigfaltigen Fehler, die in der Saison 2018 seine Hintermannschaft beging.
Die Parallelen sind einerseits frappierend: Auch Vettel lag damals auf Siegkurs, auch er rammte seine rote Front in eine Bande. Doch während Leclerc diesmal in Le Castellet im Boxenfunk nur damit akustisch auffiel, wie er schwer atmete und dann spitz aufschrie, sprach der im Kiesbett gestrandete Vettel noch im Cockpit sitzend einen legendären Satz in sein Helmmikrofon, der die Weltenlage aus seiner Sicht pointiert zusammenfasste: «O Scheisse, o nee – so ne Kacke!»
Es gibt einen weiteren, ganz entscheidenden Unterschied im Vergleich zu damals: Vettel führte die Gesamtwertung vor seinem Ausrutscher mit 8 Punkten an, erst in Hockenheim entglitt ihm der Titelkampf. Leclerc hingegen ist schon mit 38 Punkten Rückstand nach Frankreich gereist. Und das war ja nicht seine Schuld allein.
Irgendetwas ist eigentlich immer faul
Teamchef Binotto hat schon recht. Ein Spitzenfahrer darf Fehler begehen. Ein Team auch. Kompliziert wird es halt, wenn Fahrer und Team versuchen, sich in der Kategorie «unforced errors», wie es beim Tennis so schön heisst, gegenseitig zu überbieten. Zu den bereits aufgezählten Fehlern der Scuderia in dieser Saison kommt ja noch ein besorgniserregendes Materialversagen. Irgendwas ist eigentlich immer faul bei den zwei F1-75, die grundsätzlich die stärksten Autos im Feld sind; eine Selbstkasteiung Binottos für all die Probleme, die in sein Ressort fallen, ist dennoch nicht überliefert.
Neulich in Österreich klemmte Leclercs Gaspedal, der Wagen gab auch in den langsamen Kurven permanent 30 Prozent Gas, in höchster Not rettete er seinen erst dritten Saisonsieg ins Ziel. Im selben Rennen stand der Motor seines Garagennachbarn in Flammen, und weil Carlos Sainz den Wagen auf einem leichten Gefälle abzustellen versuchte, rollte er auch noch brennend rückwärts. Die vielen kapitalen Schäden an den Motoren der Scuderia deuten auf ein grundlegendes Problem hin; es scheint, als hätten die Ingenieure ihre Antriebseinheiten auf Maximalkraft getrimmt und weniger auf Haltbarkeit. So etwas rächt sich spätestens, wenn es am Saisonende Startplatzstrafen hagelt für zu viele getauschte Teile.
Die Presse macht Leclerc sein Büssertum zum Vorwurf
Was von Leclercs Rutscher aus Le Beausset bleibt, darüber wird die Qualität seiner psychologischen Aufarbeitung entscheiden. Der Druck in Italien steigt. Der «Corriere dello Sport» machte Leclerc sogar sein Büssertum zum Vorwurf: Er habe sich für seinen Fehler entschuldigt wie ein Kind, das von seinen Eltern bestraft werde. Mit Händen hinter dem Rücken und gesenktem Blick. «Und ein unsicherer Champion kann zwar ein grossartiger Pilot, aber kein Leader sein.»
Es dauerte auch nicht lang, da gingen die ersten Weltmeister auf ihn los, die über der Formel 1 nach dem Karriereende so gerne weiter kreisen. Jacques Villeneuve teilte mit, Leclercs Umgang mit kniffligen Situationen sei «der grosse Unterschied zu Verstappen». Nico Rosberg urteilte: «Wenn du Verstappen in der WM schlagen möchtest, dann kannst du dir so was nicht erlauben.» Dabei weiss das niemand besser als Leclerc. Am Sonntag rechnete er live und ungefragt im TV vor, dass er in dieser Saison bereits für den Verlust von 32 Punkten verantwortlich ist.
Seit 14 Jahren wartet die Scuderia auf einen Titel. Seither wurden in Maranello Vettel und Fernando Alonso verschlissen, die zusammen auf sechs Weltmeistertitel kommen. Ob in diesem Jahr die Sehnsucht der Tifosi gestillt werden wird? Der unerschütterlich frohgemute Teamchef hat zumindest einen ausgeklügelten Plan. Es gebe «keinen Grund», sagte Mattia Binotto in Frankreich, «warum wir nicht die letzten zehn Rennen gewinnen sollten».
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